Virtuelles Objekt des Monats

Die virtuelle Hand

Ein Objekt zwischen (körperlicher) Abhängigkeit und Autonomie

Ronja Weidemann

September 2023
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Entstehungsgeschichte – Was ist die virtuelle Hand?

Im Verlauf der 1990er Jahre beginnt sich eine neue Spielperspektive im Videospiel stärker zu etablieren: die der First-Person-Perspektive, auch Egoperspektive genannt. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass die Spieler*innen die Position des Avatars einnehmen und somit zum größten Teil auf die Darstellung eines Avatarkörpers verzichtet wird. Lediglich Hinweise wie Handlungs- und Bewegungseinschränkungen, Blickhöhe und die Resonanz der Spielwelt lassen auf die Körperlichkeit des Avatars schließen – sowie die Darstellung einer oder zweier Hände am unteren Bildschirmrand. Diese digitalen Hände werden hier vor dem Hintergrund von Körperrelationen in virtuellen Lebenswelten diskutiert.

Kompetenzen – Was kann die virtuelle Hand?

Am Beispiel der virtuellen Hand lassen sich zentrale Debatten in den Game Studies über die (körperliche) Beziehung zwischen Avataren und Spieler*innen illustrieren: Teils als Werkzeug (Neitzel 2010, 197) oder (funktionale) Erweiterung der Spieler*innen (Beil/Rauscher 2018, 207), teils als (eigenständige) Figur im Videospiel bezeichnet, sind Auseinandersetzungen mit dem Avatar von verschiedenen Auffassungen geprägt. Britta Neitzel vertritt die Sichtweise, dass in der First-Person-Perspektive durch die fehlende Körpervisualisierung (mit Ausnahme der Hände) eine Leerstelle entstehe, welche durch den Spieler*innenkörper ausgefüllt werde (2008, 105). Ist die digitale Hand also meine eigene? Ist sie eine virtuelle Erweiterung meines eigenen Körpers im Sinne eines sich eröffnenden Möglichkeitsraumes? In Anlehnung an die theoretischen Vorarbeiten lassen sich zwei Hypothesen formulieren, deren Verhältnis noch zu klären ist: Kommt es im Videospiel in dieser Perspektive zu einer Überlagerung der Körper der spielenden Person mit dem digitalen Körper des Avatars? Oder handelt es sich um zwei sich begegnende Körper, die in der Spielhandlung miteinander interagieren?

An ihre Grenzen kommt die Hypothese der Überlagerung, wenn sich die virtuelle Hand meiner Kontrolle entzieht und damit von meinem Körper deutlich unterschieden werden kann. Dafür gibt es einige Beispiele: Im Spiel What Remains of Edith Finch (2017) ging das Gefühl einer Erweiterung des eigenen Körpers durch den Avatarkörper an den Grenzen der technischen Übersetzung meiner körperlichen Handlungen in die Spielwelt verloren. Um hier die Hand des Avatars von einem Gegenstand zurückziehen, benötigte ich bei einem Spieldurchlauf zwei Versuche mit der Maus. Die Hand geriet dadurch in ihrer Bewegung merkwürdig ins Stocken. Die daraus folgende Irritation forcierte die Erkenntnis, dass die Hand im Spiel doch nicht meine Hand ist, es kam zu einer Störung der wahrgenommenen Verbindung.

Diese Erfahrung schließt an die Positionen von Wissenschaftler*innen an, die – bezogen auf die Rückkopplung zwischen Avatar- und Spieler*innenkörper – die Vorstellung einer reinen Repräsentation der Spieler*innen durch den Avatar ablehnen: Vielmehr gehen sie von einer Form körperlicher Annäherung zwischen beiden Instanzen aus (Beil/Rauscher 2018, 208). Beide Körper, der des Avatars und der der Spieler*innen, bleiben in dieser Lesart als eigene Körper auch in der gemeinsamen Spielsituation erhalten.

Erkenntnisse – Was zeigt die virtuelle Hand?

Ist die First-Person-Perspektive also eine Darstellung von Körpern ohne Körper, ein „Avatarbild-ohne-Avatar“ (Beil 2013, 151)? Im Forschungskontext virtueller Lebenswelten setzt Virtualität dem vermeintlichen Entfallen des Körpers gerade eine (Wieder-)Entdeckung des Körpers, eine Steigerung des Körperbewusstseins entgegen. Und die virtuelle Hand als visueller Marker eines virtuellen Körpers stellt genau die Fragen nach eben jenem neuen Körperbewusstsein.

Je nach wissenschaftlicher Position zum Verhältnis von Avatar- und Spieler*innenkörper ist der Blick auf die virtuelle Hand ein anderer: Ist dies meine Hand, die wie ein Werkzeug meine Handlungsmöglichkeiten in den digitalen Raum hinein erweitert, also eine körperliche Extension, über die ich selbstbestimmt verfügen kann? Oder gehört diese Hand zu einem anderen Körper, der mich (temporär) an dessen Steuerung teilhaben lässt, ist sie also Ausdruck einer Form von geteilter Körperlichkeit, die sich in letzter Konsequenz meiner Kontrolle entziehen kann? Auslöser hierfür können bspw. Bugs, Einschränkungen durch die Programmierung, unzulängliche Fähigkeiten der Spieler*innen etc. sein, ebenso wie intendierte, spielmechanische Entscheidungen (bspw. das Konzept der unreliable prosthesis nach Rune Klevjer u.a. in Bioshock 2007, siehe Beil 2009).

Die hier an First-Person-Spielen dargelegten Fragen zur virtuellen Hand lassen sich auch für den Bereich der VR-Anwendungen diskutieren. Selbstbeobachtungen im VR-Bereich legen nahe, dass (je nach Technik und Sensoren) die virtuelle Hand hier einem ähnlichen Wechselspiel an Fremd- und Selbstzuschreibungen unterliegt: Erfasst die eine VR-Anwendung bspw. die Bewegung der Finger (wenn auch nicht immer korrekt), ist dies bei einer anderen Anwendung nicht möglich, was zu Irritationen führt und einen Lernprozess initiiert, den digitalen Körper als einen ohne Fingerbewegungen beim Greifen o.ä. als legitim und mir zugehörig zu akzeptieren.

 

 

Bildnachweise

Cyberpunk, 2020. [video game] (Windows, PS4, PS5, Xbox-Series) CD Projekt RED, CD ProjektRED.

Green Hell, 2019.[video game] (Windows, Nintendo Switch, PS4, Xbox One) Creepy Jar, Creepy Jar.

Kingdom Come: Deliverance, 2018. [video game] (Windows, PS4, Xbox One) Warhorse Studios, WarhorseStudios, Prime Matter.

Medieval Dynasty, 2021. [video game] (Windows, PS5, PS4, Xbox-Series) Render Cube, Toplitz Productions.

Minecraft, 2011. [video game] (Multiplattformen) Mojang Studios, Mojang Studios.

Satisfactory, 2020. [video game] (Windows) Coffee StainStudios, Coffee Stain Studios.

Sea of Thieves, 2018. [video game] (Windows, Xbox-Series) Rare, Microsoft Studios.

The Elder Scrolls V: Skyrim Special Edition, 2016. [video game] (Multiplattformen) Bethesda Game Studios, Bethesda Softworks.

The Forest,2018. [video game] (Windows, PS4) Endnight Games, Endnight Games.

What Remains of Edith Finch, 2017. [Videospiel] (PC, PS4, Xbox One) Giant Sparrow, AnnapurnaInteractive.

 

Quellen

Beil, Benjamin, 2009. "You are Nothing but my Puppet!" Die'unreliable prosthesis' als narrative Strategie des Computerspiels. Navigationen- Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften, 9 (1), 73–89. DOI:https://doi.org/10.25969/mediarep/2344.

Beil, Benjamin, 2013. Ohnekopf-Shooter:Zur Körperlichkeit des First-Person-Avatars. In: Inderst, Rudolf Thomas undJust, Peter, Hrsg. Build 'em Up – Shoot 'em Down: Körperlichkeit indigitalen Spielen. Glückstadt: vwh, 145-178.

Beil, Benjamin und Rauscher, Andreas,2018. Avatar. In: Beil, Benjamin, Hensel, Thomas und Rauscher, Andreas, Hrsg. GameStudies. Wiesbaden: Springer VS, 201-217.

Neitzel, Britta, 2008. Medienrezeptionund Spiel. In: Distelmeyer, Jan, Hanke, Christine und Mersch, Dieter, Hrsg. Gameover!? Perspektiven des Computerspiels. Bielefeld: transcript Verlag,95-114.

Neitzel, Britta, 2010. Wer bin ich?Thesen zur Avatar-Spieler Bindung. In: Neitzel, Britta, Bopp, Matthias, und Nohr, Rolf F., Hrsg. »See?I’m real...« Multidisziplinäre Zugänge zum Computerspiel amBeispiel von SILENT HILL. Münster: LIT, 193-212. DOI:https://doi.org/10.25969/mediarep/1195.

 

Weiterführende Literatur

Beaufils, Kevin und Berland, Alexis,2002. Avatar Embodiment: From Cognitive Selfrepresentation to Digital Body Ownership. Hybrid 9, 1-17.

Klevjer, Rune, 2022. What is the Avatar? Fiction and Embodiment in Avatar-Based Singleplayer Computer Games. Bielefeld: transcript.

Moser, Michael, 2013. Die Transparenz des Interfaces: Auf dem Weg zum durchsichtigen Körper. In: Inderst, Rudolf Thomas und Just, Peter (Hrsg.) Build 'em Up – Shoot 'em Down: Körperlichkeit in digitalen Spielen. Glückstadt: vwh, 226-253.

Das Virtuelle Objekt des Monats

Ab April 2023 stellen wir jeden Monat ein „Virtuelles Objekt des Monats“ (VOM) auf der Website des Sonderforschungsbereichs 1567 „Virtuelle Lebenswelten“ vor. Die präsentierten Objekte entstammen der Forschung in den Teilprojekten. Im Zusammenspiel von Text und Animation, desktop- oder smartphonebasierter Augmentierung oder anderer grafischer Aufbereitungen eröffnen wir Einblicke in die verschiedenen Forschungsthemen und den Arbeitsalltag des SFB. Das VOM macht unsere Wissensproduktion transparent. Zugleich wollen wir hier mit den Möglichkeiten und Grenzen der Wissensvermittlung in und durch Virtualität und Visualität experimentieren.

Das „Virtuelle Objektdes Monats“ ist mehr als ein populärwissenschaftlicher Text und mehr als ein illustrierendes Bild. Die Autor*innen des jeweiligen VOM präsentieren kurz einen Gegenstand ihrer Forschung um daran ein Argument scharfzustellen. Dabei werden die Objekte auf ihren Mehrwert hin befragt, den sie in dem jeweiligen Forschungssetting preisgeben. Mit dem Text skizzieren unsere Wissenschaftler*innen das Bemerkenswerte, das Eigentümliche oder auch das Einzigartige, welches das jeweilige Objekt zeigt. Sie machen so die Forschung des SFB in einem kurzweiligen Schlaglicht sichtbar. Die zum VOM gehörende Visualisierung ist eine weitere Transformation des Forschungsgegenstands, die das Argument noch einmal auf eine andere Art und Weise zugänglich macht.