Ein Modell für eine virtuelle Resituierung
Roland Meyer
Entstehungsgeschichte – Was ist Digital Benin?
Im November 2022 wurde das Webportal Digital Benin der Öffentlichkeit vorgestellt: Erstmals sind dort Informationen zu über 5.000 Objekten, die bei der Plünderung und Verwüstung von Benin-City durch britische Truppen im Februar 1897 geraubt wurden und heute über 131 Museen verstreut sind, in einem virtuellen Archiv online abrufbar. Und damit wird erstmals auch das ganze Ausmaß der Plünderung sichtbar, das die verkürzte Rede von den „Benin-Bronzen“ eher verschleiert. Wer sich durch den elegant gestalteten Katalog klickt, stößt rasch – neben den weltberühmten Bronzeköpfen und -reliefplatten sowie den spektakulären Elfenbeinmasken – auch auf Hunderte von Musikinstrumente, Armreifen, Löffel, Kämme und Haushaltsgegenstände. Die Informationen über all diese Objekte, die bislang kaum oder nur mühsam zugänglich waren, zusammenzuführen, stand im Zentrum des von der Ernst-von-Siemens-Stiftung geförderten Projekts, an dem ein vierzehnköpfiges internationales Projektteam, ergänzt um fünf wissenschaftliche Berater*innen in Nigeria, Kenia und den USA, zwei Jahre lang gearbeitet hat. Dabei waren allein die datenlogistischen Herausforderungen an ein solches Projekt beachtlich. Denn nicht nur lagen die Objektinformationen in unterschiedlichen Sprachen und Standards der Klassifizierung und Beschreibung vor, nahezu jede Museumsdatenbank besitzt auch ihre eigene Datenstruktur und weist spezifische Lücken und Verzerrungen auf. Das Wissen der Institutionen, das nicht zuletzt ein koloniales, eurozentrisches und rassistisches Wissen ist, bildet sich in ihren Kategorien ab, etwa in den Benennungen von Objekten und Herkunftskontexten oder den Beschreibungen von Erwerbungsumständen. Virtuelle Archive wie das Digital Benin-Projekt können sich daher nicht darauf beschränken, einfach nur vorhandene museale Datensätze zusammenzuführen und aufzubereiten, sie müssen vielmehr ihre eigene Haltung zu den vorhandenen Daten entwickeln. Daten sind niemals neutral, sondern immer dasProdukt von Entscheidungen und daher niemals unpolitisch.
Kompetenzen – Was kann Digital Benin?
So wichtig es also war, die historisch entstandenen unterschiedlichen Informationsstrukturen der verschiedenen Museen und Sammlungen zu dokumentieren, so notwendig erschien es auch, über sie hinauszugehen. Die Datenstruktur von Digital Benin operiert daher auf zwei Ebenen: Die originalen Museumsdatensätze bleiben weitgehend erhalten, aber darüber legt sich ein Metavokabular aus vereinheitlichten Bezeichnungen, ohne das Suchoperationen über Sammlungsgrenzen hinweg kaum möglich wären. Manche Begriffe lassen sich jedoch aus guten Gründen nicht suchen – etwa das N-Wort, das in manchen Objektbeschreibungen noch vorhanden war. Andere rassistisch abwertende Begriffe oder verharmlosende Beschreibungen kolonialer Gewalt werden, wo immer sie auftauchen, kontextualisiert. Virtuelle Archive schaffen so nicht nur öffentliche Sichtbarkeit für zuvor allein institutionsintern verfügbares Wissen, sie können, wie das Digital Benin-Projekt, auch Modelle dafür liefern, sensibler als bisher mit diesem nicht selten kontaminierten Wissen umzugehen.
DigitalBenin ist daher weit mehr als ein Katalogisierungsprojekt, es ist der bisher vielleicht ambitionierteste Versuch, virtuelle Archive explizit nicht-eurozentrisch zu denken. Dazu ermöglicht die Website neben dem Katalog über sieben, spaces genannte Rubriken ergänzende, über die übliche Logik musealer Datenbanken hinausgehende Zugänge. Der space „Ẹyo Otọ“ beispielsweise gruppiert die Objekte entlang von Kategorien, die ihren ursprünglichen Edo-Bezeichnungen entsprechen. Man kann sich hier nicht nur die Namen der verschiedenen Objektkategorien in der Sprache des Königreichs Benin vorlesen lassen, man erfährt auch von konkreten Verwendungsweisen der Artefakte – ein Wissen, das mit deren Raub verloren gegangen war. Um es zu rekonstruieren, führte das Projektteam nicht nur Archivrecherchen in Nigeria durch, sondern sprach auch mit einer Vielzahl unterschiedlicher nigerianischer Expert*innen, ebenso wie mit jenen Handwerker*innen und Künstler*innen, die vergleichbare Objekte bis heute herstellen und verwenden.
Erkenntnisse – Was zeigt Digital Benin?
So schafft Digital Benin die Grundlagen für ein neues, vielstimmiges, vernetztes und lebendiges Wissen um diese Objekte. Und es erschließt zugleich bislang in den Datenbanken verborgene Zusammenhänge. Dies betrifft etwa den Aspekt der Provenienz, dem ebenfalls ein eigener space gewidmet ist. Denn so unzweifelhaft der ursprüngliche Unrechtskontext der Plünderung ist, so wenig ist bislang über die Akteure und Netzwerke bekannt, die dafür verantwortlich waren, dass das Raubgut seinen Weg in so viele verstreute Sammlungen gefunden hat. Zwar konnte das Team angesichts des begrenzten Projektzeitraums keine eigenen Provenienzrecherchen unternehmen, sondern war auf die Daten der Museen angewiesen, doch allein deren Zusammenführung macht es möglich, die Rolle einzelner Offiziere, Kunsthändler und Auktionshäuser nachzuvollziehen. Für Hunderte von Objekten allerdings finden sich in den Datenbanken keinerlei Angaben zur Provenienz.
Auch wenn die Arbeit also in mancherlei Hinsicht gerade erst begonnen hat, ist Digital Benin ein entscheidender Schritt zu einer neuen, situierten Kartographie, die diese Objekte wieder in jene Beziehungsnetze einbettet, die abgeschnitten und unsichtbar gemacht wurden. Indem es eine bewusst nicht-eurozentrische Perspektive einnimmt, eine Vielfalt von Stimmen zu Wort kommen lässt und verlorenes Wissen, das in den standardisierten Protokollen der Erfassung und Konservierung westlicher Museen unsichtbar gemacht wurde, wieder zugänglich macht, bietet das Portal ein Modell für eine virtuelle Resituierung von Sammlungsobjekten aus kolonialem Kontext. Statt die imperiale Logik musealer Sammlungen virtuell fortzuschreiben, eröffnet Digital Benin neue Räume der Interpretation, in denen ein anderer Umgang mit musealisierten Artefakten vorbereitet werden kann.
Quelle
Agbontaen-Eghafona, K., Bodenstein, F., Coulson,I., de la Croix, E., Denis, K., Ekhator-Obogie, O. G., Fine, J., Horak, A., Luther, A., Obobaifo, E., Osaruemwinnomwan Oviahon, M., Plankensteiner, B., & Tiedemann, G. (9.11.2022): Digital Benin, online unter: https://digitalbenin.org/.
WeiterführendeLiteratur
Azoulay, Ariella Aïsha (2019): Potential History. Unlearning Imperialism. London: Verso.
Hicks, Dan (2020): The Brutish Museums. The Benin Bronzes, Colonial Violence and Cultural Restitution, London: Pluto Press.
Meyer, Roland (2023): Diesseits des Mausoleums. Über Digital Benin und die Zukunft virtueller Sammlungen. In: cargo. Film Medien Kultur 57, S. 48–52.
Sarr, Felwine; Savoy, Bénédicte(2018): Zurückgeben: Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter, Berlin:Matthes & Seitz.
Das Virtuelle Objekt des Monats
Ab April 2023 stellen wir jeden Monat ein „Virtuelles Objekt des Monats“ (VOM) auf der Website des Sonderforschungsbereichs 1567 „Virtuelle Lebenswelten“ vor. Die präsentierten Objekte entstammen der Forschung in den Teilprojekten. Im Zusammenspiel von Text und Animation, desktop- oder smartphonebasierter Augmentierung oder anderer grafischer Aufbereitungen eröffnen wir Einblicke in die verschiedenen Forschungsthemen und den Arbeitsalltag des SFB. Das VOM macht unsere Wissensproduktion transparent. Zugleich wollen wir hier mit den Möglichkeiten und Grenzen der Wissensvermittlung in und durch Virtualität und Visualität experimentieren.
Das „Virtuelle Objektdes Monats“ ist mehr als ein populärwissenschaftlicher Text und mehr als ein illustrierendes Bild. Die Autor*innen des jeweiligen VOM präsentieren kurz einen Gegenstand ihrer Forschung um daran ein Argument scharfzustellen. Dabei werden die Objekte auf ihren Mehrwert hin befragt, den sie in dem jeweiligen Forschungssetting preisgeben. Mit dem Text skizzieren unsere Wissenschaftler*innen das Bemerkenswerte, das Eigentümliche oder auch das Einzigartige, welches das jeweilige Objekt zeigt. Sie machen so die Forschung des SFB in einem kurzweiligen Schlaglicht sichtbar. Die zum VOM gehörende Visualisierung ist eine weitere Transformation des Forschungsgegenstands, die das Argument noch einmal auf eine andere Art und Weise zugänglich macht.