Wie ein virtuelles Objekt zur Lehrkraft wird
Alexander Lang und Joachim Scholz
Entstehungsgeschichte – Was ist das Denklehrzimmer?
Das Denklehrzimmer ist eine Idee des Pädagogen und Mathematikers Christian Heinrich Wolke (1741–1825). Es handelt sich um einen Raum, in dem jüngere Kinder spielerisch lernen sollten. Das Zimmer ist zu diesem Zweck mit allerlei Werkzeugen, Abbildungen und Gegenständen – vom Schreinerwerkzeug über Pflanzen und Tiere bis hin zu mathematischen Figuren – gefüllt. Die Aufklärungspädagogik wollte im Anfangsunterricht zunächst die Wahrnehmung der Kinder trainieren und ihren Verstand wecken. Mit ‚Denkübungen‘ begann etwa der Philanthrop Friedrich Eberhard von Rochow (1734–1805) den Unterricht in seiner berühmten Musterschule für Landkinder in Reckahn bei Brandenburg/Havel. In einem Ausstellungsraum des Rochow-Museums in Reckahn ist deshalb eine Nachbildung des Denklehrzimmers nach Wolkes Vorstellungen Teil der musealen Präsentation. Hier finden Besucher*innen die gefächerte Wandgestaltung – Neugierige können, wie in einem Adventskalender hinter einigen der Felder lehrreiche Anschauungsobjekte entdecken – und Rekonstruktionen reformpädagogischer Modelle des 18. bis 20. Jahrhunderts, die ausprobiert werden können. Doch abgesehen davon ist Wolkes Idee nie realisiert worden. Lediglich ein von ihm selbst angefertigter Kupferstich existiert als Anhang seiner Anweisung für Mütter und Kinderlehrer, die es sind oder werden können, zur Mittheilung der allerersten Sprachkenntnisse und Begriffe, von der Geburt des Kindes an bis zur Zeit des Lesenlernens (1805a). Der im Video präsentierte Raum ist ebenfalls den Ausführungen Wolkes nachempfunden. Die Idee hinter dem virtuellen Denklehrzimmer ist es, (unerfahrenen) VR-Nutzer*innen erste Erfahrungen mit Bewegung, Orientierung und Handhabung in VR zu ermöglichen. Zugleich bietet der Raum auf Entwurfs- und Programmierebene die Gelegenheit, weitere Objekte zu platzieren sowie mit Voreinstellungen wie z.B. Gravitation zu experimentieren.
Funktionsweisen – Wie funktioniert das Denklehrzimmer?
Zentral für das Konzept war für Wolke stets die aufklärerische Selbstständigkeit des Kindes und der Vernunftgebrauch. Das Zimmer sollte dementsprechend den Kindern Anregungen bieten, ihren Entdeckungsdrang ansprechen und ihn nutzbar machen, um Lernprozesse in Gang zu setzen. Die Freude am Lernen und Erforschen der Objekte stand im Mittelpunkt. Eine Lehrkraft stellte Wolke in seinem Kupferstich lediglich betreuend und impulsgebend zur Seite. Ein „lebloses Zimmer [sollte] die Stelle eines Lehrers vertreten“ (Wolke 1805a, S. 475). So sollten die Kinder etwa die Verwendung von Waagen erproben können, indem sie Gegenstände in die Hand nahmen, ihr Gewicht schätzten, es verglichen und kontrollierten. Über die Interaktion mit den Gegenständen erwarben die Kinder im Denklehrzimmer nicht nur Wissen, sondern testeten auch praktische Fähigkeiten. Sie wurden dabei nicht in einem klassischen Sinn ‚von oben nach unten‘ unterrichtet, sondern erforschten selbstständig die Gegenstände der für sie arrangierten Umwelt. In das Denklehrzimmer gelangten die Lernenden übrigens bereits mit Vorkenntnissen, denn in Wolkes pädagogischem Konzept gab es noch ein Spielzimmer, das die Kinder zuvor bereits kennengelernt hatten. Daran zeigt sich das didaktische Programm. Lernen sollte nicht spielerisch-zwecklos erfolgen, sondern gezielt und stufenweise.
Erkenntnisse – Was zeigt das Denklehrzimmer?
Wolkes Denklehrzimmer und seine Vorläufer und Äquivalente aus der frühneuzeitlichen Kinder- und Jugendliteratur, wie z.B. die Abbildungen von Bildersälen und Kinderbibliotheken können als „imaginierte Räume des Wissens für Kinder“ interpretiert werden (Schmiedeler 2021, S. 41). Sie sind in dreierlei Hinsicht interessant für die Erforschung des Virtuellen in vordigitalen Räumen. Zunächst handelt es sich um Konzepte, die in ihrer Zeit nicht umgesetzt wurden. Gleichwohl beeinflusste insbesondere das Denklehrzimmer pädagogisches Denken, beförderte Diskussionen und stand reformpädagogischen Methoden Modell, die, wie die ‚Lernwerkstatt‘ in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, erst viel später in Gebrauch kamen. Das virtuelle Objekt besitzt in seiner Virtualität mithin volle Realität.
Im Denklehrzimmer kann außerdem eine vordigitale Definition des Begriffs Virtualität gefunden werden. Der ursprüngliche Begriff virtualiter wurde von den Theologen des späten Mittelalters geprägt und bezeichnet Dinge, die nicht physisch, sondern ‚der Kraft nach‘ existieren. Gemeint ist eine Kraft, die Objekte in sich tragen, die nicht physisch vorhanden ist. Demnach kann das Denklehrzimmer als Objekt zwar keine Lehrkraft sein, da es sich schließlich nicht bewegen, handeln oder unterrichten kann. Sehr wohl besitzt es aber aufgrund der in ihm liegenden ‚virtuellen Kraft‘ Lehrpotenzial. Die physische Welt wird durch eine ebenfalls virtuelle Welt ergänzt und erweitert. Das VR-Denklehrzimmer ist zwar ebenfalls nicht physisch real, aber es erweitert den Zugang zu den Ideen Wolkes auf einer anderen medialen Ebene.
In unserer Forschung fokussieren wir die Praktiken und Materialien, mit denen Menschen vergangener Zeiten sich Wissen aneigneten und die Art und Weise, wie sie mit Bildungswissen umgingen. Besonders der folgende Aspekt ist dabei interessant: Das Denklehrzimmer diente dazu, Bildungswissen zu vermitteln. Es basiert auf der Aufklärungspädagogik und zeigt die für sie typische Präferenz praktisch-verwertbarer Wissensinhalte. Bildung und deren Inhalte sind an zeitgenössische Kontexte gebunden und aus ihnen erwachsen. Überdies veranschaulichte Wolke mit seinem Denklehrzimmer, wie er sich Praktiken der Wissensaneignung von Kindern vorstellte. Betrachter*innen erhalten einen Eindruck davon, was Kinder in diesem Raum tun sollten, um sich bestimmte Fähigkeiten und Inhalte anzueignen.
Quellen
Wolke, C[hristian] H.: Anweisung für Mütter und Kinderlehrer, die es sind oder werden können, zur Mittheilung der allerersten Sprachkenntnisse und Begriffe, von der Geburt des Kindes an bis zur Zeit des Lesenlernens, Leipzig 1805a.
Wolke, C[hristian] H.: Kurze Erziehungslehre oder Anweisung zur körperlichen, verständlichen und sittlichen Erziehung anwendbar und für Mütter und Lehrer in den ersten Jahren der Kinder, Leipzig 1805b.
Weiterführende Literatur
Klattenhoff, Klaus: Artikel „Wolke, Christian Hinrich“, in: Friedl, Hans/u.a. (Hg.): Biographisches Handbuch zur Geschichte des Landes Oldenburg, Oldenburg 1992, S. 814-816.
Schmideler, Sebastian: Bildersaal, Kinderbibliothek, Denklehrzimmer. Imaginierte Räume der Anschauung in der Kinder- und Jugendliteratur im Kontext der Realienpädagogik der Frühen Neuzeit, in: Klosterberg, Brigitte (Hg.): Historische Schulbibliotheken. Eine Annäherung (Hallesche Forschung 56), Halle/Wiesbaden 2021, S. 39–49.
Schmitt, Hanno: Vom Naturalienkabinett zum Denklehrzimmer. Anschauende Erkenntnis im Philanthropismus, in: Oelkers, Jürgen (Hg.): Die Leidenschaft der Aufklärung. Studien über Zusammenhänge von bürgerlicher Gesellschaft und Bildung, Weinheim/u.a. 1999, S. 103-124.
Das Virtuelle Objekt des Monats
Seit April 2023 stellen wir jeden Monat ein „Virtuelles Objekt des Monats“ (VOM) auf der Website des Sonderforschungsbereichs 1567 „Virtuelle Lebenswelten“ vor. Die präsentierten Objekte entstammen der Forschung in den Teilprojekten. Im Zusammenspiel von Text und Animation, desktop- oder smartphonebasierter Augmentierung oder anderer grafischer Aufbereitungen eröffnen wir Einblicke in die verschiedenen Forschungsthemen und den Arbeitsalltag des SFB. Das VOM macht unsere Wissensproduktion transparent. Zugleich wollen wir hier mit den Möglichkeiten und Grenzen der Wissensvermittlung in und durch Virtualität und Visualität experimentieren.
Das „Virtuelle Objektdes Monats“ ist mehr als ein populärwissenschaftlicher Text und mehr als ein illustrierendes Bild. Die Autor*innen des jeweiligen VOM präsentieren kurz einen Gegenstand ihrer Forschung um daran ein Argument scharfzustellen. Dabei werden die Objekte auf ihren Mehrwert hin befragt, den sie in dem jeweiligen Forschungssetting preisgeben. Mit dem Text skizzieren unsere Wissenschaftler*innen das Bemerkenswerte, das Eigentümliche oder auch das Einzigartige, welches das jeweilige Objekt zeigt. Sie machen so die Forschung des SFB in einem kurzweiligen Schlaglicht sichtbar. Die zum VOM gehörende Visualisierung ist eine weitere Transformation des Forschungsgegenstands, die das Argument noch einmal auf eine andere Art und Weise zugänglich macht.