Ein Objekt der virtuellen Selbstbeobachtung
Patrizia Breil
Entstehungsgeschichte – Was ist ein Memoji?
Seit 2018 gehört in die Reihe der animierten Emojis das Memoji, das es Apple-Nutzer*innen erlaubt, personalisierte Emojis zu erstellen. Die Personalisierung umfasst dabei eine große Bandbreite an physiognomischen Merkmalen und modischen Accessoires – von aktuell zwölf unterschiedlichen Nasenformen bis hin zu 46 verschiedenen Brillenmodellen. Das Memoji kann als Sticker versendet werden oder als Animierung in FaceTime-Anrufen über das Gesicht der Nutzer*innen geblendet werden, dessen Bewegungen es dann übernimmt. In seiner Gestaltbarkeit erinnert das Memoji an Avatare in Gaming-Kontexten. Allerdings besteht es aus nicht viel mehr als einem Kopf, Armen und der oberen Oberkörperhälfte. Worum es beim Personalisieren gehen soll, ist klar: es geht um mich. Wir erstellen nicht Youmojis, nicht Theymojis und auch nicht Usmojis; ich erstelle ein Memoji. Aber hat das wirklich etwas mit mir zu tun?
Kompetenzen – Was kann das Memoji?
Memojis sind vor allem eines: Reflexionsanlass. Soll ein Memoji wie ich selbst aussehen – und der Großteil der Nutzer*innen (vor allem Nutzerinnen) möchte genau diese self similarity –, muss ich wissen, wie ich aussehe. Spätestens beim Blick auf verschiedene Kinnformen wird das zu einer kniffligen Aufgabe der Selbstbeobachtung. Schon wird aus dem Memoji ein I-Memoji, in dem sich der reflexive Blick der Nutzer*innen auf sich selbst spiegelt. Es gibt ich und mich. Das sind zwei. Ins Wackeln gerät das Memoji auch dann, wenn es anderen präsentiert wird, die sagen: „Irgendwas stimmt noch nicht. Das Memoji ist nicht wie du.“ Wie ich aussehe, ist Verhandlungssache. Mit dem Memoji tritt in diese Verhandlung eine neue, virtuelle Position ein. Das Bild, das andere und ich von mir haben, wird in den Grenzen digitaler Gestaltbarkeit ausgelotet. Dabei ist das Virtuelle der Ort, an dem das reflektierte Mich Gestalt annimmt als digitales Objekt. Am Ende steht ein Memoji, das mit in die Verhandlungsrunde blickt. – Welches Bild hat das Memoji von mir?
Erkenntnisse – Was zeigen Memojis?
Sichtbar wird in der Gestaltung von Memojis vor allem der Bruch zwischen Nutzer*in und Memoji: Das Lächeln, das wie eine Grimasse aussieht, die Augen, die nicht zurückschauen, der Gesichtsausdruck, der glitcht. Was als Angleichungsprozess eines Roh-Memojis an mich beginnt, endet in einer Abgrenzungsbewegung von ebenjenem personalisierten Not-quite-Memoji: so ähnlich, aber nicht ganz. Dabei übersteigt das Noch-nicht-ganz die faktische Physiognomie und macht sich vor allem bemerkbar in Bewegungsabläufen und nicht reproduzierbaren Gesten. Das Selbstbild, das Nutzer*innen im Memoji suchen, ist eingelassen in Praktiken, in Bewegungsabläufe, in die Welt. Was also fehlt? Im Speziellen meine Nase. Aber im Allgemeinen noch mehr. Was fehlt, bin ich; ich in der Welt.
Quellen
Breil, Patrizia (2024): „Digitale Körper. Computergestützte Zugänge zum verkörperten Selbst“. In: Schwartz, Maria; Neuhaus, Meike; Ulbricht, Samuel (Hg.), Digitale Lebenswelt. Philosophische Perspektiven. Stuttgart: Metzler (im Erscheinen).
Herring, Susan; Dainas, Ashley R.; Lopez Long, Holly; Tang, Ying (2020): „Animoji adoption and use: gender associations with an emergent technology“. In: Proceedings of the 3rd International Workshop on Emoji Understanding and Applications in Social Media.
Sartre, Jean-Paul (1943): Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. 13. Aufl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. 2007.
Weiterführende Literatur
Barthes, Roland (1980): Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 1989.
Sweeney, Paula (2023): „Avatars as Proxies“. In: Minds and Machines 33, S. 525–539. https://doi.org/10.1007/s11023-023-09643-z.
Das Virtuelle Objekt des Monats
Seit April 2023 stellen wir jeden Monat ein „Virtuelles Objekt des Monats“ (VOM) auf der Website des Sonderforschungsbereichs 1567 „Virtuelle Lebenswelten“ vor. Die präsentierten Objekte entstammen der Forschung in den Teilprojekten. Im Zusammenspiel von Text und Animation, desktop- oder smartphonebasierter Augmentierung oder anderer grafischer Aufbereitungen eröffnen wir Einblicke in die verschiedenen Forschungsthemen und den Arbeitsalltag des SFB. Das VOM macht unsere Wissensproduktion transparent. Zugleich wollen wir hier mit den Möglichkeiten und Grenzen der Wissensvermittlung in und durch Virtualität und Visualität experimentieren.
Das „Virtuelle Objektdes Monats“ ist mehr als ein populärwissenschaftlicher Text und mehr als ein illustrierendes Bild. Die Autor*innen des jeweiligen VOM präsentieren kurz einen Gegenstand ihrer Forschung um daran ein Argument scharfzustellen. Dabei werden die Objekte auf ihren Mehrwert hin befragt, den sie in dem jeweiligen Forschungssetting preisgeben. Mit dem Text skizzieren unsere Wissenschaftler*innen das Bemerkenswerte, das Eigentümliche oder auch das Einzigartige, welches das jeweilige Objekt zeigt. Sie machen so die Forschung des SFB in einem kurzweiligen Schlaglicht sichtbar. Die zum VOM gehörende Visualisierung ist eine weitere Transformation des Forschungsgegenstands, die das Argument noch einmal auf eine andere Art und Weise zugänglich macht.