Wie Leerstellen verzweigte Realitäten offenlegen
Matthias Preuss
Entstehungsgeschichte – Was sind die weißen Flecken?
Ab August 1914, in der Anfangsphase des Ersten Weltkriegs, wurden am Lehrgebäude der preußischen Kriegsakademie in der Dorotheenstraße in Berlin regelmäßig Verlustlisten ausgehängt. Vor den an die Fassade geklebten Tabellen versammelten sich Menschen, die dichtgedrängt versuchten, die Namen von Getöteten, Vermissten und Verwundeten einzusehen. Bereits im Herbst 1914 wurde der Aushang der Listen jedoch wieder verboten. An den Stellen, wo der Granit der Außenwand wochenlang mit Papier bedeckt gewesen war, blieben helle Rechtecke zurück. Auf diese Spuren bezieht sich der kurze Text Die Flecke von Kurt Tucholsky, der am 21.12.1919 unter dem Pseudonym Ignaz Wrobel in der Berliner Volks-Zeitung erschien. Dieser Text befasst sich mit dem Problem, Verluste zu verzeichnen, auf bemerkenswerte Weise: Er geht nicht von den Daten aus, die in den Listen enthalten sind, sondern von ihren Konturen, von ihren Umrissen: „Da hingen sie, da, wo jetzt die weißen Flecke sind.“
Die Reproduktionen historischer Fotografien von den Aushängen weisen ebenfalls helle Flecken auf, allerdings genau dort, wo die Listen zu sehen sein müssten. Dieser Effekt mag durch Überbelichtung oder als Folge der Bildbearbeitung bei der Digitalisierung der Aufnahmen entstanden sein, interessanter ist, dass sich in diesen virtuellen „weißen Flecken“ verschiedene Schichten überlagern. Die verschiedenen Realitäten in dieser räumlichen Konstellation unterscheiden sich durch ihre Zeitlichkeit, ihre Medialität, ihre Bedeutung und ihre Materialität.
Kompetenzen – Was können die weißen Flecken?
In der Literaturwissenschaft gibt es eine lange Geschichte der Erforschung virtueller Phänomene im Zusammenhang mit literarischen Texten, der Begriff derVirtualität taucht dabei jedoch (anders als etwa in den Medienwissenschaften) kaum auf. Auch für die Literaturwissenschaft ist die Bedeutung des Begriffs „virtuell“ nicht festgelegt, sondern in Bewegung. Vor diesem Hintergrund hatten die weißen Flecken für mich eine wichtige Orientierungsfunktion. Ihre erstaunlichen Leistungen in der Anfangsphase meiner Forschung bestanden darin, dass sie figurieren, historisieren und versammeln können.
Erstens machen die weißen Flecken als Figur die eigentümliche Materialität von virtuellen Phänomenen greifbar. Sie vermittelten mir eine Vorstellung davon, dass virtuelle Phänomene der Realität nicht entgegengesetzt sind, sondern dass sie – auf eine bestimmte Weise, die untersucht werden muss – real sind. Auf dem Wege der literarischen Ver- und Bearbeitung kann also etwas Verschwundenes eine Wirkung entfalten. Wichtig ist dabei aber das physische Substrat – die Spuren auf dem Granit, deren Realität zwischen Anwesenheit und Abwesenheit changiert.
Zweitens verraten die weißen Flecken, dass Virtualität eine lange Geschichte hat und nicht an Digitalisierung oder VR-Technologien im engen Sinne gebunden ist. Diese lange Geschichte ist auch und gerade eine Literaturgeschichte, denn es ist der literarische Text, der die Perspektive auf die Verlustlisten entscheidend verschiebt – von den Listen auf die leeren Konturen – und sie als virtuelles Objekt erzeugt.
Drittens tauchen die weißen Flecken nicht nur in Texten auf – in der Zeitung unter dem Namen Ignaz Wrobel oder in Buchform in der Tucholsky-Werkausgabe, – sondern auch auf Granit und verarbeiteten historischen Fotografien. Sie „versammeln“ unterschiedliche Materialien, Medien und Formate. Erst durch die Rückbindung an eine tatsächliche Materialität wird nachvollziehbar, inwiefern es sich bei den weißen Flecken um virtuelle Objekte handelt.
Erkenntnisse – Was zeigen die weißen Flecken?
Der Tucholsky-Text fasst die Leerstellen, die durch eine Schutzschicht aus Papier unbefleckt geblieben sind, in einer Umkehrung als ‚weiße Flecken‘. Aus dem Unbefleckten werden Flecken. Durch diese Operation wird aus etwas Abwesendem etwas Fassbares, es bekommt eine Positivität. Die Flecken können so nach dem Kriegsende und im Kontext des kollektiven Vergessens der Gräuel als virtuelle Objekte ein reales Gegenstück zu den metaphorischen Spuren werden, die das massenhafte Töten und Sterben hinterlassen hatte oder – von Tucholskys pazifistischem Standpunkt aus – hinterlassen haben sollte: „Im Lauf der Jahre werden ja diese weißen Flecke allmählich vom Regen abgewaschen werden und schwinden. Aber diese andern da, die kann man nicht tilgen. In unseren Herzen sind Spuren eingekratzt, die nicht vergehen“ (Tucholsky [1919], 228). Die Verluste, das Abwesende, das Fehlende, das weder zeitlich eingegrenzt noch räumlich eingeordnet werden kann, wird durch diese Verkörperung greifbar. „Die Flecke schreien“ (Tucholsky [1919], 228). Der Wechsel der Modalität, der Sprung im sinnlichen Register von der Sichtbarkeit zur Hörbarkeit der Abwesenheit markiert zugleich die Wirklichkeit und die Virtualität der Verlustlisten. Die Metapher der Einschreibung von Spuren bzw. Kratzern in die inneren Organe der Überlebenden lässt sich als Theorie der Verkörperung virtueller Objekte lesen, in der diese als verzweigt und anachronistisch entworfen werden. Wo und wann sind die Verlustlisten real? Die Konturen, die Umrisse bilden die Schauseite eines virtuellen Objekts, das durch die Lektüre in der Literatur in einem anderen Licht erscheint: „Ist er [der braune Granit] weißlich gefleckt? Aber er sollte rötlich gefleckt sein“ (Tucholsky [1919], 227). Die Wirklichkeit der Passant*innen und das Imaginäre des Blutvergießens überlagern sich mit der Wirklichkeit des Blutvergießens und dem Imaginären des Vorübergehens an anderen Orten und zu anderen Zeiten.
Quellen:
Preußische Kriegsakademie mit Aushang der Deutschen Verlustlisten, Berlin Dorotheenstraße 58/59 (vermutl. Herbst 1914), Fotograf: k.A. Online unter: http://www.landesarchiv-berlin-bilddatenbank.de/hida4web-LAB/view?docId=obj5082655.xml.
Schweinoch, Oliver und Arnulf Scriba: „Das ‚August-Erlebnis‘“, Eintrag im Blog Lebendiges Museum Online (LEMO), Deutsches Historisches Museum, 24.11.2022, unter: https://www.dhm.de/lemo/kapitel/erster-weltkrieg/innenpolitik/august-erlebnis.html.
Tucholsky, Kurt: „Die Flecke“. In: Ders.: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 2. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1975, S. 227f.
Wrobel, Ignaz [Kurt Tucholsky]: „Die Flecke“. In: Berliner Volks-Zeitung 21.12.1919, https://dfg-viewer.de/show/?set%5Bmets%5D=https://content.staatsbibliothek-berlin.de/zefys/SNP27971740-19191221-1-0-0-0.xml.
Weiterführende Literatur:
Binczek, Natalie und Armin Schäfer: „Virtualität der Literatur: Eine Sondierung“. In: Virtuelle Lebenswelten. Körper – Räume – Affekte. Hrsg. von Stefan Rieger, Armin Schäfer und Anna Tuschling, Berlin/Boston: De Gruyter 2021, 87–101.
Esposito, Elena: Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität, 4. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp 2019.
Vogl, Joseph: Grinsen ohne Katze. Vom Wissen virtueller Objekte, in: Hans-Christian v. Hermann und Matthias Middell (Hg.): Orte der Kulturwissenschaft, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 1998, 41–53.
Das Virtuelle Objekt des Monats
Seit April 2023 stellen wir jeden Monat ein „Virtuelles Objekt des Monats“ (VOM) auf der Website des Sonderforschungsbereichs 1567 „Virtuelle Lebenswelten“ vor. Die präsentierten Objekte entstammen der Forschung in den Teilprojekten. Im Zusammenspiel von Text und Animation, desktop- oder smartphonebasierter Augmentierung oder anderer grafischer Aufbereitungen eröffnen wir Einblicke in die verschiedenen Forschungsthemen und den Arbeitsalltag des SFB. Das VOM macht unsere Wissensproduktion transparent. Zugleich wollen wir hier mit den Möglichkeiten und Grenzen der Wissensvermittlung in und durch Virtualität und Visualität experimentieren.
Das „Virtuelle Objektdes Monats“ ist mehr als ein populärwissenschaftlicher Text und mehr als ein illustrierendes Bild. Die Autor*innen des jeweiligen VOM präsentieren kurz einen Gegenstand ihrer Forschung um daran ein Argument scharfzustellen. Dabei werden die Objekte auf ihren Mehrwert hin befragt, den sie in dem jeweiligen Forschungssetting preisgeben. Mit dem Text skizzieren unsere Wissenschaftler*innen das Bemerkenswerte, das Eigentümliche oder auch das Einzigartige, welches das jeweilige Objekt zeigt. Sie machen so die Forschung des SFB in einem kurzweiligen Schlaglicht sichtbar. Die zum VOM gehörende Visualisierung ist eine weitere Transformation des Forschungsgegenstands, die das Argument noch einmal auf eine andere Art und Weise zugänglich macht.