Ein 3D-Modell als virtueller Zeuge
Anna Polze
Entstehungsgeschichte – Was ist Evros/Meriç Situated Testimony?
Das digitale 3D-Modell ist ein operatives Artefakt, das in einem mediengestützten Interview-Verfahren entstanden ist. Es wurde von Forscher*innen der Rechercheagentur Forensic Architecture mit der CAD-Software Rhinoceros erstellt, während Zeug*innen und Betroffene von Menschenrechtsverletzungen berichten, die sie im Zuge einer versuchten Überquerung der griechisch-türkische Grenze erlitten haben. Sie beschreiben aus ihren Erinnerungen, wie die Gebäude aufgebaut sind, in denen sie nach ihrem Asylgesuch festgehalten wurden und unter welchen Bedingungen die Haft erfolgte. Die Methode wird im Kontext von Forensic Architecture als »Situated Testimony« bezeichnet.
Die Anschaulichkeit, die das Modell nachträglich leistet, ist vor dem Hintergrund relevant, dass es zur Erfahrbarkeit eines Ortes beiträgt, der den Blicken der Öffentlichkeit sowie journalistischer Berichtserstattungen verborgen ist. Die europäische Außengrenze entlang des Evros-Flusses ist als militärische Sperrzone abgeriegelt. Auch Handyfotos der Flucht-Migrant*innen – die im Kontext anderer politischer Verbrechen als Evidenz fungieren – sind nur in seltenen Fällen vorhanden, da Smartphones meist direkt an der Grenze konfisziert werden.
Polizeiliche Strukturen und Haftzentren, die zur Befragung, Durchsuchung und Inhaftierung von aufgegriffenen Asylsuchenden und Flucht-Migrant*innen dienen, sind wirksame Knotenpunkte des Pushback-Systems, das an der griechisch-türkischen Grenze als extra-legale Normalität gilt. Ohne Zugang zu einem Asylverfahren zu bekommen, werden Asylsuchende und Flucht-Migrant*innen gewaltsam über die Grenze zurückgedrängt.
Kompetenzen – Was kann Evros/Meriç Situated Testimony?
Das 3D-Modell ist ein aussagekräftiges virtuelles Objekt, weil es aus verschiedenen Perspektiven zu Fragen von forensischen Ästhetiken in virtuellen Lebenswelten beiträgt. Zum einen ist es eine Darstellung eines Tatorts, wie sie in forensischen Ermittlungen für Gerichtsverfahren üblich ist. Es geht jedoch auch über diese rein funktionale Dimension, die den geschlossenen Gerichtsprozess adressiert, hinaus. Im Internet kann es vom eigenen Endgerät aus in einem 3D-Viewer angesehen und bewegt werden. Die Blickperspektiven, die an eine virtuelle Raumerkundung zwischen Gaming und Geografie angelehnt sind, dienen der Exploration. Es ist mit Informationen durchsetzt, die sich im Anwählen der rot eingefärbten Flächen aktivieren lassen.
Letztlich dient das Modell jedoch auch der Abstraktion. Es ist schlicht gehalten in schwarz/weiß. Nur wenige Details sind sichtbar und es »schwebt« im scheinbar leeren Raum der Website. Diese gezielte Reduziertheit öffnet den Wirkungsraum des Modells, denn sie erlaubt kein immersives Eintauchen und bietet keine vollausgestattete Erfahrungswelt, wie sie etwa mit VR-Anwendungen assoziiert wird. Stattdessen erfordert es eine informierte Betrachtung, die die Betrachter*innen nicht als passive Rezipient*innen adressiert, sondern als politische Subjekte herausfordert.
Erkenntnisse – Was zeigt Evros/Meriç Situated Testimony?
Das Modell des Haftzentrums und der Prozess, für den es steht, ermöglichen einen Blick auf Zeugenschaft unter den Bedingungen virtueller Lebenswelten. Hier wird deutlich, dass das Virtuelle als ein Möglichkeitsraum fungiert, der neuartige Rekonstruktionsverfahren anbietet. Besonders interessant ist dabei neben der gesteigerten Sichtbarkeit der Aspekt der Zusammenarbeit und der schrittweisen Aufarbeitung: Das Modell ist ein Mittel, um Betroffene und Forscher*innen miteinander in einen Austausch treten zu lassen, der herkömmliche Modi der Fürsprache und der verbalen, oft re-traumatisierenden Schilderung von Erinnerungen und Erfahrungen übersteigt. Die Forscher*innen und Betroffenen sitzen nicht einander gegenüber, sondern blicken von einem gemeinsamen Tisch auf einen Screen, auf dem die Modellierung erfolgt. In der gemeinsamen Arbeit mit analogen und digitalen Medien – Modelling-Software und Handskizzen – erwächst ein kollaboratives, virtuelles Zeugnis, das die Last der Zeugenschaft als einen geteilten Prozess denkbar macht, der sich zwischen Menschen und Medien entfaltet.
Quellenangaben
Pushbacks Across theEvros/Meriç River: Situated Testimony, 19.10.2020. In: forcensic-architecture.org, https://forensic-architecture.org/investigation/evros-situated-testimony (letzter Zugriff: 22.07.2024).
3D-Modell. Kuzey. https://3d-viewer.forensic-architecture.org/kuzey001/ letzter Zugriff: 22.07.2024).
WeiterführendeLiteratur
Karamanidou, Lena, Bernd Kasparek und Simon Campbell: »Spaces of Detention at theGreek-Turkish Land Border«, 24.05.2021, https://www.law.ox.ac.uk/research-subject-groups/centre-criminology/centreborder-criminologies/blog/2021/05/spaces-detention.
Polze, Anna: Fragile Evidenz.Videodokumente illegaler Zurückweisung an Europas Grenzen, Lüneburg: mesonPress (im Erscheinen).
Abbildungen und Videos
Forensic Architecture, Pushbacks Across the Evros/Meriç River: The Case of Kuzey, 2020. https://www.youtube.com/watch?v=nnOXkuDeY0E&ab_channel=ForensicArchitecture (letzter Zugriff: 16.09.2024), TC: 00:08:23.
3D-Modell. Kuzey. https://3d-viewer.forensic-architecture.org/kuzey001/ (letzter Zugriff: 22.07.2024).
Das Virtuelle Objekt des Monats
Seit April 2023 stellen wir jeden Monat ein »Virtuelles Objekt des Monats« (VOM) auf der Website des Sonderforschungsbereichs 1567 »Virtuelle Lebenswelten« vor. Die präsentierten Objekte entstammen der Forschung in den Teilprojekten. Im Zusammenspiel von Text und Animation, desktop- oder smartphonebasierter Augmentierung oder anderer grafischer Aufbereitungen eröffnen wir Einblicke in die verschiedenen Forschungsthemen und den Arbeitsalltag des SFB. Das VOM macht unsere Wissensproduktion transparent. Zugleich wollen wir hier mit den Möglichkeiten und Grenzen der Wissensvermittlung in und durch Virtualität und Visualität experimentieren.
Das »Virtuelle Objektdes Monats« ist mehr als ein populärwissenschaftlicher Text und mehr als ein illustrierendes Bild. Die Autor*innen des jeweiligen VOM präsentieren kurz einen Gegenstand ihrer Forschung um daran ein Argument scharfzustellen. Dabei werden die Objekte auf ihren Mehrwert hin befragt, den sie in dem jeweiligen Forschungssetting preisgeben. Mit dem Text skizzieren unsere Wissenschaftler*innen das Bemerkenswerte, das Eigentümliche oder auch das Einzigartige, welches das jeweilige Objekt zeigt. Sie machen so die Forschung des SFB in einem kurzweiligen Schlaglicht sichtbar. Die zum VOM gehörende Visualisierung ist eine weitere Transformation des Forschungsgegenstands, die das Argument noch einmal auf eine andere Art und Weise zugänglich macht.