Virtuelles Objekt des Monats

Die Geometrie der gedruckten Seite

Das Digitalisat als Objekt virtueller Dekonstruktion

Christof Kleinfelder und Christina Lechtermann

März 2025
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Entstehungsgeschichte: Was ist die Geometrie der gedruckten Seite?

Das Digitalisat, das die Rara-Sammlung der Bayerischen Staatsbibliothek München online verfügbar hält, präsentiert einen Druck, der 1528 in Nürnberg entstanden ist. Sein Titel »DJses buchlein zeyget an vnd lernet ein maß oder proporcion der Ross/ nutzlich iungen gesel||len/malern vnd goltschmiden« ist mit dem Zusatz »Sebaldus Beham Pictor noricus faciebat« und dem Signum HSP versehen und weist damit den Maler und Kupferstecher Sebald Beham als Urheber des ›Büchleins‹ aus. Es zeigt, wie man mithilfe eines Rasters und eines Zirkels Pferde in unterschiedlichen Haltungen entwerfen kann und legt dabei einen besonderen Akzent auf die geometrischen Grundlagen dieses Konstruktionsverfahrens (vgl. Giesecke 2006, 92f und 103f).

In diesem Virtuellen Objekt des Monats (VOM) jedoch interessiert die Herstellung des Buches, die selbst einer geometrischen Logik folgen muss. Das Buch, das 19 bedruckte Blätter umfasst, besteht aus insgesamt 5 Lagen. Lagen sind kleine Heftchen aus mehreren ineinandergelegten und in der Mitte gefalzten Blättern, die zum Buch gebunden und dann an den Kanten aufgeschnitten werden. In diesem Büchlein sind die ersten vier Lagen, die aus je zwei ineinandergelegten Doppelblättern (also 4 Blättern bzw. 8 Seiten) bestehen, durch die Bogensignaturen A, B, C und D markiert. Das ›Rossbüchlein‹ ist im Quart-Format gedruckt, d.h. ein größerer Druckbogen, der im 16. Jahrhundert noch keiner festen Norm folgt, ist zweimal gefaltet worden – also gerade so, dass sich ein Heftchen aus zwei ineinandergelegten Doppelblättern ergibt. An den ersten beiden Lagen, die in diesem VOM zu sehen sind, lässt sich die Bogensignatur (z.B. [A], Aii, Aiii, B, Bii, Biii) in der unteren rechten Ecke der je ersten drei Blätter einer Lage gut erkennen, die für die richtige Ausrichtung und Reihenfolge der Text- und Bildblöcke auf dem Bogen sorgen soll.

Abb. aus Giesecke 2006, S. 104: »Umbruch des Bogens beim Druck im Quartformat«

Kompetenzen: Was kann die Geometrie der gedruckten Seite?

Das VOM nutzt das Digitalisat eines Drucks, weniger als eine Repräsentation von Seite und Buch oder als digitales Faksimile, das für bestimmte, aber keineswegs für alle Forschungsfragen den Zugang zum historischen Objekt ersetzen kann (vgl. etwa Rapp 2004), sondern als virtuelles, manipulierbares Objekt. Dieses bietet die Möglichkeit, Prozesse der Genese eines Drucks zu rekonstruieren und als Simulation anschaulich werden zulassen. Es dekonstruiert die Typotopographie der gefalteten und zur Bindung bereiten Lage und führt sie zurück auf den gedruckten Bogen.

 

Erkenntnisse: Was zeigt die Geometrie der gedruckten Seite?

In unserer Forschung im TP B04 »Virtuelle Texte« beschäftigen wir uns mit der Rolle des Virtuellen bei der Konstitution von Texten. Wir fragen danach, welche unsichtbaren, aber dennoch wirksamen Konzeptionen von Text, die jeweilige textuelle Faktur bestimmen. Das VOM macht den planerisch-geometrischen Aspekt des Buchdrucks sichtbar, indem es verdeutlicht, wie Text- und Bildbereiche auf einem Bogen eingeteilt, ausgerichtet und bedruckt werden müssen, damit sie später in der gefalteten Lage in richtiger Reihenfolge stehen. Es zeigt, wie der Text bzw. genauer, der Bild-Text zerlegt und der Geometrie unterworfen wird, die das Druckmedium erst wirksam werden lässt, um später eine lineare Lektüre möglich zu machen.

 

Quellen und weiterführende Literatur

Sebald Beham: DJses buchlein zeyget an vnd lernet ein maß oder proporcion der Ross/ nutzlich iungen gesel||len/malern vnd goltschmiden. Nürnberg 1528 (München, Bayerische Staatsbibliothek, Rar 691; urn:nbn:de:bvb:12-bsb00026022-6).

Giesecke, Michael: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Mit einem Nachwort zur Taschenbuch-Ausgabe [Orig. 1991]. Vierte, durchgesehene und um ein Vorwort ergänzte Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006.

Rapp, Andrea: Digitale Faksimiles. Vom Liebhaberstück zum Forschungsinstrument. In: Aus dem Antiquariat, 5/2004, 361-366.

Das Virtuelle Objekt des Monats

Seit April 2023 stellen wir jeden Monat ein »Virtuelles Objekt des Monats« (VOM) auf der Website des Sonderforschungsbereichs 1567 »Virtuelle Lebenswelten« vor. Die präsentierten Objekte entstammen der Forschung in den Teilprojekten. Im Zusammenspiel von Text und Animation, desktop- oder smartphonebasierter Augmentierung oder anderer grafischer Aufbereitungen eröffnen wir Einblicke in die verschiedenen Forschungsthemen und den Arbeitsalltag des SFB. Das VOM macht unsere Wissensproduktion transparent. Zugleich wollen wir hier mit den Möglichkeiten und Grenzen der Wissensvermittlung in und durch Virtualität und Visualität experimentieren.

Das »Virtuelle Objektdes Monats« ist mehr als ein populärwissenschaftlicher Text und mehr als ein illustrierendes Bild. Die Autor*innen des jeweiligen VOM präsentieren kurz einen Gegenstand ihrer Forschung um daran ein Argument scharfzustellen. Dabei werden die Objekte auf ihren Mehrwert hin befragt, den sie in dem jeweiligen Forschungssetting preisgeben. Mit dem Text skizzieren unsere Wissenschaftler*innen das Bemerkenswerte, das Eigentümliche oder auch das Einzigartige, welches das jeweilige Objekt zeigt. Sie machen so die Forschung des SFB in einem kurzweiligen Schlaglicht sichtbar. Die zum VOM gehörende Visualisierung ist eine weitere Transformation des Forschungsgegenstands, die das Argument noch einmal auf eine andere Art und Weise zugänglich macht.