Forschungsreise ins nördliche Polen (Dezember 2023)
Lena Ciochon ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt B02 „Virtuelles Mittelalter“ des Sonderforschungsbereichs 1567 „Virtuelle Lebenswelten“. Sie forscht zur Mittelalterrezeption speziell in VR-Anwendungen, es geht ihr also darum, wie mittelalterliche Geschichte dort dargestellt wird. Dabei konzentriert sie sich auf eine vergleichende Analyse von VR-Applikationen deutscher und polnischer Kultureinrichtungen. Ihr Augenmerk liegt dabei nicht nur auf der Umsetzung und Integration von VR-Anwendungen in den Ausstellungskontext, sondern vor allem auf kuratorischen Praktiken und kulturpolitischen Hintergründen. Im Dezember 2023 unternahm Lena Ciochon eine mehrtägige Forschungsreise zu polnischen Kultureinrichtungen, die sich zum einen mit mittelalterlicher Geschichte beschäftigen und zum anderen VR-Anwendungen in ihren Angeboten nutzen.
Nach einem ruhigen Flug von Dortmund nach Gdańsk und einer kurzen Zugfahrt wurde ich im recht modernen Gebäude des Ośrodek Kultury i Sportu w Żukowie (kurz OkiS) durch die Direktorin, Aleksandra Rogalewska-Kania, herzlich willkommen geheißen. Das OkiS ist eine Kultureinrichtung unter kommunaler Verwaltung, die für die Bevölkerung Sport- und Kultur-Aktivitäten organisiert. Die Angebote im kulturellen Bereich erstrecken sich dabei von Ausstellungen über Festivals bis hin zu Workshops für alle Altersgruppen.
So gibt es beispielsweise – und das ist für meineForschung relevant – eine kulturhistorische Ausstellung auf dem nahe gelegenen Gelände des ehemaligen Norbertinerinnenklosters, durch die mich Magdalena Maliszewska, die Koordinatorin im Bereich Vermittlung, geführt hat. Das Kloster wurde bereits im 13. Jahrhundert gegründet und ist nur in Teilen erhalten geblieben. Leider sind nicht alle Gebäude auf dem Areal für die Öffentlichkeit zugänglich. Die Klosterkirche Mariä Himmelfahrt aus dem14./15. Jahrhundert wird z.B. noch heute als Pfarrkirche genutzt.
Die VR-Anwendung, die im OKiS gezeigt wird, macht diese „versteckten“ Räume sichtbar und repräsentiert das Kloster zur Zeit des Mittelalters. Auf virtueller Entdeckungstour, begleitet durch die Projektleiterin Margaretta Mielewczyk, konnte ich die Unterrichts- und Schlafräume der Nonnen betreten, die Gutsbestätigung des piastischen Herzogs Przemysł II. betrachten und in einer Küche einen Kochtopf umrühren.
Von Gdańsk ging es nach Elbląg ins Centrum Spotkań Europejskich „Światowid“ (Światowid ist eine Gestalt der slawischen Mythologie), eine dem Marschallamt in Olsztyn unterstellte Kultureinrichtung. Dieses Haus zeichnet sich durch seine vielfältigen kulturellen Angebote aus und versteht sich im weitesten Sinne auch als Fortbildungs- und Dienstleistungszentrum. Unter anderem werden in der Abteilung der regionalen Digitalisierungswerkstatt Workshops für andere Kultureinrichtungen organisiert und auf Nachfrage Objekte digitalisiert. Das Haus besitzt zudem eine Ausstellung über die Geschichte der Stadt nach 1945 bis 1949, die in Zusammenarbeit mit einer Kooperationseinrichtung aus Kaliningrad umgesetzt wurde. Die besondere technische Gestaltung (3D-Drucke, Hologramme, interaktive Beamer-Projektionen) stellte mir die Mitarbeiterin Edyta Bugowska vor.
Jan Ożdżoński, verantwortlich für das Grafikdesign und die Betreuung der VR-Projekte, führte mich durch die VR-Applikation, die im Rahmen des Projekts „Mittelalterliche Sammlungen von Ermland und Masuren“ („Średniowieczne Kolekcje Warmii i Mazur“) entstanden ist. Der Fokus liegt hierbei auf den über 100 digitalisierten Objekten aus den Museen der Region, die in einer virtuellen mittelalterlich anmutenden Umgebung in Szene gesetzt werden.
Im anschließenden ausführlichen Gespräch über das Projekt und die Einrichtung mit der Abteilungs- und Projektleiterin Hanna Laska-Kleinszmidt ging es neben der VR-Anwendung auch um Aspekte wie Finanzen, zeitlichen und finanziellen Druck, Herausforderungen, Chancen, Abhängigkeiten, Kooperationen, Personallagen und Nachhaltigkeit. Die Relevanz des Letzteren bestätigt sich auch in der Kulturbranche und wird mich in meiner weiteren Auseinandersetzung mit VR-Anwendungen zunehmend begleiten.
Tief in den Masuren angekommen – genauer gesagt in Działdowo – besuchte ich das Muzeum Pogranicza, das den Fokus auf den „Deutschen Orden“ und sein Wirken in der Region legt. Artur Barcikowski, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Hauses führte mich durch die mehrfach ausgezeichnete und hoch technisierte Ausstellung im Rathausgebäude der Stadt. Eine zweite Dauerausstellung, die sich der Stadtgeschichte widmet, ist im Gebäude der ehemaligen Kreuzritterburg zu sehen.
In dieser Ausstellung konnte ich mir über einen Scanner ein 3D-Modell einer Holzschleuder anzeigen lassen, Filme über große Projektionstische anschauen, mir ein Biberschwanzsuppen-Rezept über einen Touchscreen ausdrucken lassen und schlussendlich mir selbst ein Selfie vor einer digitalen Fotowand via Mail zusenden, auf dem ich das Gewand einer „mittelalterlichen Magd“ trug. An immersiven Momenten fehlte es dieser Ausstellung nicht. Leider jedoch an einer VR. Es stellte sich hier heraus, dass die VR-Applikation, die sich wohl an ein Publikum in Kindesalter richtete, aufgrund defekter Hardware seit geraumer Zeit aus der Ausstellung genommen wurde. Eine genauere Auskunft konnte nicht gegeben werden und aus technischen Gründen war es auch nicht möglich, die VR anderweitig einzusehen. Gerade hier zeigt sich die Schnelllebigkeit von VR-Projekten und die damit verbundene Problematik für kulturhistorischer Einrichtungen, der ich im Laufe meiner Recherchen des Öfteren begegnet bin. Und wenn nicht die VR-Applikationen selbst verschwunden waren, so wurden vielfach die Personen, die diese Projekte leiteten, nach Ablauf der Projektzeit nicht weiterbeschäftigt.
Am letzten Tag meiner Forschungsreise besichtigte ich die Burgruine [FotoBurgruine 6] im touristisch erschlossenem Toruń. Hierzu besuchte ich die Toruńska Agenda Kulturalna, eine noch junge Kultureinrichtung der Stadtverwaltung mit direktem Sitz an der Burgruine, die wie die gesamte Toruńer Altstadt seit 1997 auf die Liste der UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen wurde.
Die Mitarbeiterinnen Joanna Żmijewska und Wiktoria Semenow zeigten mir auf dem historischen Burggelände die VR-Installation, die im Rahmen der Feierlichkeiten des 550. Geburtstags von Nikolaus Kopernikus im Jahr 2023 veröffentlicht wurde. Der nicht mehr existente Turm und das Innenleben der mittelalterlichen Burg wurden virtuell darin nachgebaut und begreif- und begehbar.
Hier zeigte sich – wie auch bei den anderen Stationen meiner Forschungsreise – deutlich, dass die VR-Applikationen keine „Isolierungsmaschinen“sind. Im Gegenteil – ohne Begleitung, Anleitung und Zusatzinformationen durch die jeweilige Fachkraft wäre eine Nutzung der Applikationen schwierig und Wissenserweiterung teils unmöglich. Es sind Personen, die diese Projekte und VR-Anwendungen kuratieren, mit Museums- und Kulturkontexten verbinden und weiterentwickeln, und die mich herzlich empfangen haben. Für meine weitere Forschung ist es wichtig, genau dort anzuknüpfen. Was sind das für Menschen, die diese Geschichten (re)produzieren? Warum wählen sie für diese historischenInhalte und Objekte ausgerechnet die „Lösung Virtual Reality“? Wie und mit welchen Netzwerken setzen sie ihre Ideen um? Welche Spielräume haben sie? Welche Grenzen sind ihnen gesetzt? Wie kommen sie zu den dargestellten Informationen und Daten? Gibt es Inspirationsquellen oder Handreichungen? Und wie sehen diese Personen die Zukunft von Virtual Reality im musealen Kontext und im weitesten Sinne die eigene institutionelle Zukunft?
Fotos: Lena Ciochon | SFB 1567, 2023