Wenn Literatur in die VR geht
Stefan Rieger
Entstehungsgeschichte – Was ist der Odradek?
Das virtuelle Objekt im Juni 2024 ist der Odradek. Er stammt aus dem Jahr 1919 und ist somit inzwischen stattliche 105 Jahre alt. Odradek ist Teil einer kurzen Erzählung mit dem Titel Die Sorge des Hausvaters des Schriftstellers Franz Kafka, dessen Todestag sich diesen Monat zum 100. Mal jährt. Geschildert wird er dort als ein sonderbares Gebilde, dessen Aussehen an eine sternartige Zwirnspule erinnert. „Es ist aber nicht nur eine Spule, sondern aus der Mitte des Sternes kommt ein kleines Querstäbchen hervor und an dieses Stäbchen fügt sich dann im rechten Winkel noch eines.“ Beschrieben wird es als unzweckmäßig und sinnlos, als eigensinnig und beweglich, als gelegentlich heimtückisch und nie dort, wo man ihn vermutet. Der Odradek ist in der Lage, selbständig seinen Aufenthaltsort zu verändern und sogar mit seiner Umwelt zu kommunizieren. Sogar lachen kann er, allerdings klinge dieses Lachen so, „wie man es ohne Lungen hervorbringen kann“ (Kafka [1919] 1970, 139). Als un- und unterbestimmtes Ding, als eine Art rätselhaftes unmögliches Objekt war und ist es in der Literaturwissenschaft Gegenstand zahlreicher Interpretationen und Bedeutungszuweisungen. Diese reichen vom Davidstern über den Sinn des Lebens bis zur Warenkritik bei Karl Marx – um von selbstreferentiellen Bezugnahmen auf die Frage der prinzipiellen Sinnhaftigkeit gar nicht erst zu reden.
Kompetenzen – Was kann der Odradek?
Odradek war Gegenstand einer Nachstellung im Virtuellen, die im Rahmen des SFB 1567 Virtuelle Lebenswelten als erste Monthly Application im Xtended Room stattfand. Er diente als Vorgabe, um im Virtuellen beliebige Formgebungen nachzustellen. In der VR-Anwendung Gravity Sketch wurden die Bewegungen, mit denen Interessierte, Freiwillige und Proband*innen in der VR-Umgebung Odradek geformt haben, aufgezeichnet. Mittels Tracking der Controllerbewegungen entstanden so konkrete Umsetzungen und individuelle Varianten des Odradeks.
Erkenntnisse – Was zeigt der Odradek?
Odradek ist in dieser Ausgestaltung in der Lage, die Verschränkung von Vorstellung und Materialisierung zu versinnbildlichen, die in der literarischen Vorlage eine bewusste, die Diskussionen anregende Leerstelle, blieb. Sein Beitrag für die Virtualitätsforschung liegt darin, die Übergängigkeit und wechselseitige Modellierung zwischen Erzählen, Vorstellen und Formen zu verkörpern und damit das Verhältnis von Imagination und Immersion scharf zu stellen. Damit macht Gravity Sketch eine literarisch vermittelte Vorstellung anschaulich und greifbar. Das Besondere daran ist, dass dabei eine mehrfache Umschichtung getrennter und ihrer Gediegenheit unterschiedlich veranlagter Ontologien und Seinsweisen erfolgt: Aus Wörtern werden Vorstellungen, aus Vorstellungen Gestalten, aus Gestalten in 3D-Druck materialisierte Gebilde. Wenn die entsprechenden Vorgaben der Literatur dann auch noch in die bildgenerierenden Systeme Künstlicher Intelligenzen eingespeist werden und diesen als Prompt für die Herstellung von algorithmisch erzeugten Bildern dienen, hat sich im Zuge dieser Umschichtung auch noch die Systemstelle des*der Leser*in erledigt. Der Effekt solcher Transformationsketten und ihrer unterschiedlichen Agenten ist eine scheinbare Paradoxie. Im Virtuellen werden die unmöglichen Dinge der Literatur real.
Quellen
Kafka, Franz (1919), „Die Sorge des Hausvaters“ (1919), in: ders: Sämtliche Erzählungen, Frankfurt am Main 1970, S. 139–140.
weiterführendeLiteratur
Holbein, Ulrich (1990), Samthase und Odradek, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Meyer, Roland (2023), „Es schimmert, es glüht, es funkelt – Zur Ästhetik der KI-Bilder“, Eintrag im Blog 54books, dort datiert 20.3.2023, https://www.54books.de/es-schimmert-es-glueht-es-funkelt-zur-aesthetik-der-ki-bilder/.
Oppenlaender, Jonas/Linder, Rhema/Silvennoinen, Johanna M. (2023), „Prompting AI Art: An Investigation into the Creative Skill of Prompt Engineering“, CoRR abs/2303.13534.
Sugihara, Kokichi (2018), „Evolution of Impossible Objects“, 9th International Conference on Fun with Algorithms (FUN 2018), S. 2:1-2:8.
Das Virtuelle Objekt des Monats
Seit April 2023 stellen wir jeden Monat ein „Virtuelles Objekt des Monats“ (VOM) auf der Website des Sonderforschungsbereichs 1567 „Virtuelle Lebenswelten“ vor. Die präsentierten Objekte entstammen der Forschung in den Teilprojekten. Im Zusammenspiel von Text und Animation, desktop- oder smartphonebasierter Augmentierung oder anderer grafischer Aufbereitungen eröffnen wir Einblicke in die verschiedenen Forschungsthemen und den Arbeitsalltag des SFB. Das VOM macht unsere Wissensproduktion transparent. Zugleich wollen wir hier mit den Möglichkeiten und Grenzen der Wissensvermittlung in und durch Virtualität und Visualität experimentieren.
Das „Virtuelle Objektdes Monats“ ist mehr als ein populärwissenschaftlicher Text und mehr als ein illustrierendes Bild. Die Autor*innen des jeweiligen VOM präsentieren kurz einen Gegenstand ihrer Forschung um daran ein Argument scharfzustellen. Dabei werden die Objekte auf ihren Mehrwert hin befragt, den sie in dem jeweiligen Forschungssetting preisgeben. Mit dem Text skizzieren unsere Wissenschaftler*innen das Bemerkenswerte, das Eigentümliche oder auch das Einzigartige, welches das jeweilige Objekt zeigt. Sie machen so die Forschung des SFB in einem kurzweiligen Schlaglicht sichtbar. Die zum VOM gehörende Visualisierung ist eine weitere Transformation des Forschungsgegenstands, die das Argument noch einmal auf eine andere Art und Weise zugänglich macht.