Virtuelle körperliche Ertüchtigung
Felix Nier ist Forschungsstudierender im Teilprojekt C02 „Virtuelle Körper“ und fragt in seinem Forschungsprojekt „Virtuelle körperliche Ertüchtigung“ nach der Verbindung von Körper, Sport und VR.
„Virtual reality workouts are surprisingly fun and effective“ (Levesly 2020). In der zurückliegenden globalen Pandemie, in der sich viele Bewegungsinteressierte auf die Suche nach Alternativen zu Fitnessstudios und Sportanlagen machten, wurden Exergames, also bewegungsinduzierte Videospiele, immer populärer: Einschlägige Artikel finden sich beispielsweise in The New York Times und diversen Online-Magazinen. Mitunter gesellt sich dazu die eingangs erwähnte schmissige Schlagzeile, die das VR-Exergame FITXR lobt. Im Artikel finden sich folgende Worte – bezogen auf den CEO und Mitgründer von FITXR: „The big change for him, he says, is that in a few years VR has gone from a big, gangly setup to something you can, literally, send in the post“ (ebd.).
In einer post-pandemischen Gesellschaft, in der weiterhin alltagsbezogene Tätigkeiten und Narrative invasiv in digitalen Welten gamifiziert werden und die VR-Thematik durch diverse Gegenstände (z.B. Metas Metaverse oder Apples Spatial Computing) längst in den Mainstream geraten ist, rückt auch die Frage des Körpers in den Vordergrund. Im Forschungsprojekt „Virtuelle körperliche Ertüchtigung“ möchte ich die Verbindung von Körper, Sport und VR näher erforschen und anhand eines Beispiels erste Beobachtungen und offene Fragen des Projekts offenlegen.
Die Frage nach dem Körper in VR-Kontexten ist eine weitreichende und höchst umstrittene. Die deutsche Philosophin Sybille Krämer wählte in einem Aufsatz bereits im Jahre 2002 den vielleicht provokant anmutenden Titel „Verschwindet der Körper?“ und macht gleich zu Beginn darauf aufmerksam, dass sie dieser These nicht zustimmt. Sie präferiert – statt der Auffassung, dass sich der Körper in neuen Medien auflöst – die Idee der Aufspaltung in zwei Körper, in einem physischen Fleischkörper und einen semiotischen Datenkörper. Infolgedessen sei das Wechselspiel der zwei Seiten des verdoppelten Körpers die Grundlage für einen Diskurs über virtuelle Körper (Krämer 2002, 50). Jenes Wechselspiel führt dazu, dass aus der Repräsentation des Fleischkörpers in der virtuellen Welt eine Präsenz des Zeichenkörpers wird (ebd., 53), da „[d]ie bloß simulierte Präsenz des Körpers in der Datenwelt […] somit als wirkliche Präsenzempfunden [wird] und […] am eigenen Körper[…] [R]eaktionen aus[löst]“ (ebd., 51). Der Begriff der Bewegung rückt in diesem Kontext in den Vordergrund, ist dies doch eine jener Möglichkeiten, die ‚Welt hinter dem Spiegel‘ zu beeinflussen.
Die Darstellung und Implementierung von Bewegung und weiteren damit verwandten Aktionen steht in einem stets (neu) überdachten Verhältnis von Nähe und Abstand zum Körper. Jene Abstände identifiziert der US-amerikanische Wissenschaftler Ian Bogost als Rhetoriken, die eine Abstraktion von realen (Bewegungs-)Mustern darstellen (Bogost 2013, 255). Daraus folgt ein Körperbegriff, der auf dem leiblichen Körper fußt, dessen Tätigkeit rhetorisch über Interface-Aktionen in das Spiel übertragen wird. Im Zuge dessen eröffneter u.a. die Rhetorik des Laufens (Joystick neigen → Laufen), des Sprints (z.B. schnelleres Drücken von Knöpfen → Sprint) oder der Agilität (Eingeben zwischen den Extremen schnell/langsam oder kräftig/vorsichtig → agile Bewegung) (ebd., 237–243). Dementsprechend verringere sich der Abstand des „realen“ und digitalen Körpers durch eine Steuerung, die weniger von jenen Rhetoriken Gebrauch macht. Hierzu gehören Spiele, die dem sogenannten Exergaming-Genre zugeordnet werden können.
Der Exergaming-Begriff an sich geht unter anderem auf einen Beitrag über das Videospiel DANCE DANCE REVOLUTION von Fox News im Sommer 2004 zurück: „Exercise, Lose Weight with Exergaming“. In diesem Rhythmus-Spiel muss der*die Spieler*in rhythmisch bestimmte Sensoren einer Tanzmatte mit den Füßen betätigen, was zur Gewichtsabnahme beitragen sollte. In der medialen Berichterstattung wurde infolgedessen immer mehr über dieses neue Phänomen gesprochen, da das Videospielen zu diesem Zeitpunkt eigentlich von gezielter Bewegung bzw. sportlicher Betätigung getrennt angesehen wurde. Es festigte sich der Begriff Exergaming als Mischung aus den englischen Begriffen für körperliche Bewegung (exercise) und Videospiele (video games). Obwohl der beschworene Effekt des Gewichtsverlusts nicht hinreichend wissenschaftlich fundiert war (Bogost 2013, 236–237), wurde aus dem Trend in den folgenden Jahren ein nachhaltiger Erfolg: Die Konsole Wii, deren Steuerung primär durch die bewegungssensiblen Wii Remotes erfolgt, verkaufte sich insgesamt 101,63 Millionen Mal (Nintendo 2021); das meist verkaufte Spiel für die Konsole, WII SPORTS, trägt den Sport-Begriff im Namen und verkaufte sich rund 82,90 Millionen Mal (Nintendo 2021). Laut Wallenfels (2013, 227) fanden Exergames ihren technischen Höhepunkt hingegen in der Konsole Kinect von Microsoft, die als einziges Eingabegerät eine Kamera besitzt, die die räumlichen Bewegungen des*der Spieler*in misst und verarbeitet, wodurch der Körper selbst zum Controller wird. Aktuell sind Exergames fester Bestandteil eines globalen Marktes für interaktive Fitness, dem bis 2024 ein Wachstum von ungefähr 5,44 Milliarden USD vorausgesagt wurde (Business Wire 2020).
Als Diskussionsbeispiel, an dem Exergaming und die Frage nach virtuellen Körpern zusammenlaufen, soll in diese Forschungsarbeit ICAROS PRO dienen. Dies ist ein Gerät, das mit verschiedenen VR-Headsets kompatibel ist und eine Reihe an Anwendungen anbietet, die sich mit ihm spielen lassen. Dabei legt sich der*die Spieler*in mit dem Bauch auf eine Stütze, von der er*sie mit seinen*ihren Händen und Füßen das bewegungssensitive Gestell mit Körperkraft bewegen kann, um im Spiel beispielsweise durch die Luft zu fliegen. Die Interface-Aktion erfolgt dabei über konkrete Bewegung oder besser gesagt: über signifikante Bewegungsabläufe, die als körperliche Ertüchtigung beschrieben werden können. Und obgleich sich jene Anwendung ästhetisch gesehen einer simulierten Dreidimensionalität bedient, hat die Durchführung der Sportübung auf dem Gerät zum einen – in Krämers Worten – einen Effekt auf den Fleischkörper (Sport) und zum anderen auf den Zeichenkörper (Bewegung in der virtuellen Welt). Dadurch verschwindet der rhetorische Abstand der Körper bzw. des Körpers. Damit legt dieses Beispiel ein weiteres Mal das philosophische Dilemma des virtuellen Körpers offen: Wenn der gefühlte und technische Abstand zwischen dem Fleisch- und Zeichenkörper immer kleiner wird und dadurch eine Parallelität zwischen der „realen“ und virtuellen Welt erkennbar wird – handelt es sich dann um einen Körper, der an zwei Orten ist, oder um zwei Körper, die am selben Ort sind, oder beides?
Felix Nier
Literatur
Bogost, Ian (2013): „Exergames und Exer-Learning Games: Exergames: Rhetoriken und soziale Rituale.“ In: Freyermuth, Gundolf S. / Gotto, Lisa / Wallenfels, Fabian (Hrsg.) (2013): Serious Games, Exergames, Exerlearning: Zur Transmedialisierung und Gamification des Wissenstransfers (Bild und Bit. Studien zur digitalen Medienkultur. Band 2). Bielefeld: transcript Verlag, S. 233–264.
Krämer, Sybille (2002): „Verschwindet der Körper? Ein Kommentar zu computererzeugten Räumen.“ In: Maresch, Rudolf / Werber, Niels (Hrsg.): Raum – Wissen – Macht. Frankfurt/M: Suhrkamp, S. 49–68.
Levesley, David (19.09.2020): „Fitness: Virtual reality workouts are surprisingly fun and effective”. Condé Nast, https://www.gq-magazine.co.uk/lifestyle/article/fitxr-virtual-reality-workout (10.04.2022).
o.V. (11.06.2020): „COVID-19 Impact and Recovery Analysis – Interactive Fitness Market 2020-2024 | Rising Trend of Exergaming to Boost Growth | Technavio”. Business Wire, Inc., https://www.businesswire.com/news/home/20200611005298/en/COVID-19-Impact-and-Recovery-Analy-sis---Interactive-Fitness-Market-2020-2024-Rising-Trend-of-Exergaming-to-Boost-Growth-Technavio (07.02.2024).
o.V.(31.12.2021): „Dedicated Video Game Sales Units“. Nintendo, https://www.nintendo.co.jp/ir/en/finance/hard_soft/index.html (07.04.2024).
Wallenfels, Fabian (2013): „Exergames und Exer-Learning Games: Einleitung.“ In: Freyermuth / Gotto / Wallenfels, S. 227–232.
Abbildung
ICAROS Pro: https://www.icaros.com/de/produkte/icaros-pro (29.04.2024).