Virtuelle Textualität zwischen mittelalterlicher Handschrift und TEI/XML-Dokument
Gesa Blankemeyer ist Forschungsstudierende im Teilprojekt B04 »Virtuelle Texte« und fragt in ihrem Forschungsprojekt »Virtuelle Textualität zwischen mittelalterlicher Handschrift und TEI/XML-Dokument«, wie sich eine mittelalterliche Handschrift und deren Besonderheiten in einem XML (Extensible Markup Language)-Dokument nach den TEI (Text Encoding Initiative)-Leitlinien erfassen lassen und welchen Mehrwert dies besonders für die Germanistische Mediävistik bietet.
Virtualität und mittelalterliche Handschriften scheinen zunächst wie gegensätzliche Entitäten. Die eine modern, ubiquitär und gleichzeitig erst in den Ansätzen erforscht, die andere historisch, im Verfall begriffen und bereits über Jahrhunderte hinweg untersucht. Damit geht gleichermaßen eine wertende Einschätzung einher, dies owohl die Flüchtigkeit und Schwierigkeit der Definition der Virtualität hervorhebt als auch die heutige Relevanz der Beschäftigung mit mittelalterlichen Handschriften infrage stellt.
Mein Forschungsinteresse gilt der Frage, wie sich eine mittelalterliche Handschrift und deren Besonderheiten in einem XML (Extensible Markup Language)-Dokument nach den TEI (Text Encoding Initiative)-Leitlinien erfassen lassen und welchen Mehrwert dies besonders für die Germanistische Mediävistik bietet. Als Beispiel habe ich den Text Von gotes parmherzicheit gewählt, der im ›Sammelcodex (geistlicher) deutscher Epik‹ zu finden ist. Der Codex wird in der Österreichischen Nationalbibliothek aufbewahrt (Cod. 2677) und wird in seiner Entstehungszeit auf etwa zwischen 1320 und 1330 datiert.
Nun stellt sich zunächst die Frage, wie diese Bearbeitung eines mittelalterlichen Textes in das Forschungsgebiet der Virtualität einzuordnen ist. Ein Text lässt sich zunächst definieren als ein »in einem zunächst nicht näher bestimmten Sinn […] Ganzes«, das »aus kleineren, linear und hierarchisch miteinander verknüpften Elementen zusammengesetzt [ist]« (Horstmann 2007, S. 594). Der Begriff geht zurück auf das lateinische Verb texere, das ›weben‹ bedeutet, und wurde damit in der Antike zunächst als ›Gewebe‹, aber auch schon als ›Struktur‹ verstanden (vgl. Drügh/Kraß 2012, S. 175). Damit eröffnet sich ein weiter Spielraum für das, was als Text betrachtet werden kann.
Die virtuelle Philologie lässt sich nach Christina Lechtermann und Markus Stock »am Schnittpunkt zwischen den ›klassischen‹ Literatur- und Editionswissenschaften und den Digital Humanities« verorten (Lechtermann/Stock 2020, S. 439). Bei Texten lasse sich in diesem Zusammenhang zwischen ursprünglich digitalen Texten und Texten unterscheiden, die sowohl in digitaler als auch in haptischer Form, beispielsweise in Gestalt einer Handschrift, existieren (vgl. ebd., S. 427). Im zweiten Fall komme dem Verhältnis der Texte zueinander eine besondere Bedeutung zu, bezüglich dessen sowohl die »Textualität des analogen Text-Objekts«, der »digitale[] Transkriptionsprozess« als auch dessen Endprodukt von Interesse seien (ebd.). Hier stellt sich die Frage, worin der Unterschied zwischen Digitalität und Virtualität besteht, scheinen beide doch sehr nah beieinander zu liegen und werden die Begriffe doch im Alltagsverständnis teils synonym verwendet. Auch hierauf geben Lechtermann und Stock eine Antwort, sie definieren »Virtualität [als] die uns zugängliche, wahrnehmbare und operationable Dimension des Textes, die auf dem Display sowie im Quellcode erscheint«, unter den Begriff der Digitalität fällt für sie »die für die rechnende Maschine zugängliche und operable, materielle Basis solcher Texte« (ebd.).
Die bei der Erfassung einer mittelalterlichen Handschrift im TEI/XML-Dokument zu beachtende Voraussetzung, dass »[d]er mittelalterliche Handschriftentext […] ebenso als abstrahierbare (codierbare und annotierbare) sprachliche Folge wie als materialgebundenes Schriftbild aufgefasst werden [kann]«, lässt sich anstatt als Schwierigkeit als »Möglichkeit für ein neues Umgehen mit dem vormodernen Text« sehen (ebd., S.438). So können mit entsprechenden Auszeichnungen beide Formen der Handschrift in der Edition miteinander verbunden und zueinander in Bezug gesetzt werden. Im TEI/XML-Dokument zu Von gotes parmherzicheit findet sich dafür an der Stelle, an der die Transkription des entsprechenden Blattes beginnt, ein Verweis auf die Bilddatei der Seite der Handschrift, welche in einer Liste unterhalb der Transkription im Dokument ausgezeichnet ist.
Virtuelle Editionen sind also nicht nur Digitalisierungen bereits vorhandener Editionen und Editionsmuster. Es kommen vielmehr Möglichkeiten hinzu, die für die Druckversion nicht vorhanden sind. So lassen sich Zusatzinformationen hinzufügen, die vor allem die Verfasstheit und Details der mittelalterlichen Handschrift betreffen. Dabei geht es unter anderem um »Initialen, Auszeichnungen, Ornamente, Bilder oder kodikologische Besonderheiten wie Rasurstellen, Lücken und Marginalien«, deren Vorkommen anhand einer Verlinkung mit dem Digitalisat der Handschrift veranschaulicht werden kann (ebd., S. 433). Beispiele hierfür sind die Auszeichnung von am Versanfang stehenden Lombarden und deren jeweiliger Farbe sowie die Auszeichnung lateinischer Zitate, die im untersuchten Text vorkommen. Diese lateinischen Zwischentexte sind in roter Farbe hervorgehoben, Lombarden finden sich sowohl in schwarzer als auch in roter Schriftfarbe. Für Spezialfälle wie die lateinischen Zitate lassen sich im TEI/XML-Dokument Listen anlegen, auf deren Eintragungen innerhalb der Transkription verwiesen werden kann. Die in einer solchen Liste vermerkten lateinischen Zitate der hier untersuchten Handschrift haben für die Verweise im TEI/XML-Dokument eine jeweilige xml:id. Außerdem bietet sich die Möglichkeit, auf weitere Handschriften zu verweisen, um eine textuelle Verwandtschaft zwischen diesen darzulegen, wie es bei der vorliegenden Handschrift der Fall ist, die sich aufgrund von Inhalt und Gestaltung mit weiteren Handschriften in Verbindung setzen lässt. Die Textzeugen verfügen somit über einzelne Einträge innerhalb des TEI/XML-Dokuments, die es möglich machen, innerhalb des Dokuments auf die einzelnen Textzeugen zu verweisen.
Durch solche Möglichkeiten zeigt sich »die Leistungsfähigkeit der virtuellen Edition« (ebd., S. 433f.). Insbesondere für Studierende bietet sich nach Sonja Glauch unter anderem die Möglichkeit, weiterhin die ursprüngliche Umgebung der Texte, die sie in ihrem Studium lesen, vor Augen zu haben (vgl. Glauch 2005, S. 20). Dabei lässt sich auch die »ortsunabhängige[] Zugänglichkeit[von virtualisierten Handschriften]« (Lechtermann/Stock 2020, S. 431) hervorheben. Die mittelalterliche Handschrift, die zunächst vom »bewegliche[n] Schriftträger […] zum statischen geworden [ist]« (Lechtermann/Stock 2020, S. 432), vereint nun beide Eigenschaften in sich, indem sie in ihren verschiedenen Formen als Text zugleich ubiquitär wie statisch ist.
›Virtualität‹ bedeutet hier also: Ein Text existiert in verschiedenen, konkret realisierten Formen gleichzeitig, die jedoch alle auf eine abwesende, virtuelle Entität dieses Textes zurückverweisen. Dies wiederum eröffnet eine neue Perspektive auf spezifische Texte und den ›Text‹ als Forschungsgegenstand an sich.
Quelle
›Von gotes barmherzigkeit‹ / ›Streit der vier Töchter Gottes‹ [Bl.100va-103va]. In: Verschiedene: Sammelcodex (geistlicher) deutscher Epik. 1320-1330. Cod. 2677. Wien, Österreichische Nationalbibliothek. Digitalisat: https://digital.onb.ac.at/RepViewer/viewer.faces?doc=DTL_3195255&order=1&view=SINGLE (zuletzt aufgerufen am 20.05.24). Titelbild des Beitrags: Bl. 102v.
Sekundärliteratur
Drügh, Heinz/Kraß, Andreas: Text und Textverstehen. In: Drügh, Heinz et al. (Hgg.): Germanistik. Sprachwissenschaft – Literaturwissenschaft – Schlüsselkompetenzen. Stuttgart/Weimar 2012, S. 175-180.
Glauch, Sonja: Neue Medien, alte Texte? Überlegungen zum Ertrag digitaler Ressourcen für die Altgermanistik. In: Stolz, Michael/Gisi, Lucas Marco/Loop, Jan (Hgg.): Literatur und Literaturwissenschaft auf dem Weg zu den neuen Medien. Eine Standortbestimmung. Zürich 2005, S. 13-28.
Horstmann, Susanne: Art. ‚Text‘. In: Müller, Jan-Dirket al. (Hgg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. III. Berlin/New York 2007, S. 594-597.
Lechtermann, Christina/Stock, Markus: Virtuelle Philologie. In: Kasprowicz, Dawid/Rieger, Stefan (Hgg.): Handbuch Virtualität. Wiesbaden 2002,S. 425-454.