Virtuelles Objekt des Monats

Der Bio-Adapter

Ein Objekt, das den Menschen zum Cyborg macht und aufzeigt, was Fiktionen tun

Armin Schäfer

September 2024
Walter Pichler (1967): Kleiner Raum
Entstehungsgeschichte – Was ist der Bio-Adapter?

Der Bio-Adapter ist ein virtuelles Objekt, das Oswald Wiener in die verbesserung von mitteleuropa, roman (1969) erfunden hat. Er beschreibt nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit dem »TV-Helm« des Künstlers und Architekten Walter Pichler eine technische Einrichtung – den Bio-Adapter –, die den Menschen mit einer künstlichen Umwelt umgibt. Diese Einrichtung übernimmt die vollständige Versorgung des Organismus und nach und nach auch dessen lebenswichtige Funktionen, bis der Unterschied zwischen Organismus und Umwelt aufgelöst wird und der Bio-Adapter den Menschen assimiliert hat.

Die literarische Erfindung des Bio-Adapters wurzelt in dem Konzept des kybernetischen Organismus – dem Cyborg –, das Manfred Clynes und Nathan Kline (Clynes, Kline 1960) entwickelten. Das Konzept sollte die Frage der amerikanischen Weltraumbehörde NASA, wie der Mensch im Weltall überleben könne, beantworten. Sie schlagen vor, den menschlichen Organismus mit Hilfseinrichtungen zu versehen bzw. mit Maschinen zu koppeln, die seine Körperfunktionen auch unter widrigsten Bedingungen, wie sie im Weltraum herrschen, aufrechterhalten. Sie verstanden diese Erweiterung des Organismus als Kopplung und die Kopplung als eine Optimierung von Funktionsweisen. Auch wenn der Organismus prothetisch erweitert und mit Maschinen gekoppelt wird, bleibt der Mensch in seinem Wesen unverändert, was er ist: ein Subjekt der Gewohnheit, das auf vorhersehbare Weise fühlt, denkt und handelt.

Kompetenzen – Was kann der Bio-Adapter?

Der Bio-Adapter führt einerseits auf die Frage nach dem Unterschied zwischen der methodischen Fiktion der Kybernetiker und Wieners literarischer Fiktion; andererseits wirft er die Frage nach dem Unterscheid zwischen Fiktion und Virtualität auf. Die Kybernetiker stellen den Cyborg als ein mögliches Objekt hin, das seiner künftigen Verwirklichung harrt. Sie schufen ein Reservoir des Möglichen, von dem das ein oder andere später tatsächlich auch verwirklicht wurde. Die Verwirklichung aber fügte dem fiktiven Objekt des Cyborgs lediglich seine Existenz hinzu.

Wiener zieht zum einen die Prämisse in Zweifel, der zufolge der Organismus, der mit einer Maschine gekoppelt wird, in seinem Wesen unverändert bleibe. Der Anpassungsvorgang ist nicht allein im Menschen zu lokalisieren. Die Frage, wer in dem Bio-Adapter handelt und auf wen überhaupt eingewirkt wird, erfährt in der syntaktischen Form von Subjekt, Prädikat und Objekt keine oder allenfalls eine tautologische Antwort. So wird über „die entwicklung des systems“ (Wiener 1996, CLXXVII) in einer „zweite[n] adaptionsstufe“ (ebd., CLXXXI) gemutmaßt: „man könnte nun angesichts dieser prozesse von einem allmählichen aufsaugen der zellorganisation durch die elektronischen schaltkomplexe sprechen“ (ebd.,CLXXXII). Der Bio-Adapter ist nicht Mensch plus Hilfseinrichtungen, sondern bildet insgesamt ein neuartiges System. Ohne rhetorische Techniken, narrative Strategien und literarische Verfahren ist eine sprachliche Darstellung des Anpassungsvorgangs und seiner Effekte aber kaum zu leisten.  

Erkenntnisse – Was zeigt der Bio-Adapter?

Wiener verknüpft den Bio-Adapter unmittelbar mit seiner literarischen Darstellung. die verbesserung von mitteleuropa, roman stellt nicht das fiktive Objekt eines weiteren Cyborgs hin, sondern konstituiert insgesamt eine Fiktion, die ihrerseits den Bio-Adapter als virtuelles Objekt hinstellt. Die zirkuläre und rückwirkende Kausalität in dem Bio-Adapter ist nicht so sehr Bewirkung, sondern Aktualisierung und die Aktualisierung keine bloße Verwirklichung eines Möglichen, sondern eine Transformation der Funktionsweise des Organismus. Wiener nutzt das Privileg der Literatur auf Unvollständigkeit ihrer Erfindungen, übergeht die technischen Aspekte des Bio-Adapters und ruft soziale, ethische und politische Fragen auf, um sie aber unbeantwortet zu lassen. Es geht nicht mehr, wie beim Cyborg, darum, ob und wie sich das fiktive Objekt auch verwirklichen lässt, sondern um ein virtuelles Objekt, das in seiner Aktualisierung den Spielraum des Möglichen, wie er im Konzept des Cyborgs angelegt ist, überschreitet. Auch wenn „der mensch von seiner auseinandersetzung mit der umwelt befreit“ und „ein teil dieser auseinandersetzung [...] schon in absehbarer zeit den computern übergeben werden“ könne, sei fraglich, ob „ein schlaraffenland gestalt anehmen kann“. (ebd., CXLVIII)

Wieners Bio-Adapter ist für einen literarischen Begriff der Virtualität von besonderem Interesse, da an ihm ein Unterschied zwischen der methodischen Fiktion in Forschung und Technik und einer literarischen Fiktion hervortritt. Wiener unterstellt die Fiktion nicht dem Spielraum eines Möglichen, das nurmehr seiner technischen Verwirklichung harrt, sondern dem Unvordenklichen. 1969 stößt er mit die verbesserung von mitteleuropa, roman die Tür auf zu Konzepten wie Selbstorganisation, Autoregulation und Rationalität systemischen Verhaltens, die ihrerseits zum Überdenken jedes einfach geschnittenen Verhältnisses von methodischer und literarischer Fiktion, von literarischer Fiktion und Virtualität zwingen.

 

Quellen:

Oswald Wiener, die verbesserung von mitteleuropa, roman, 3. Aufl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1969, S.CXXXIV-CLXXIV („notizen zum konzept des bio-adapters, essay“) und S. CLXXV-CLXXXIII „appendix A. der bio-adapter“). Der Roman, der die Kleinschreibung verwendet, ist in römischen Zahlen paginiert.

Manfred Clynes, Nathan S. Kline, „Cyborgs and Space“, in: Astronautics, Sept. 1960, S. 26f. u. S. 74–76.

 

Weiterführende Literatur:

Bernhard J. Dotzler, „Ergriffenheit– Gedankenflucht. Oswald Wieners experimentelles Schreiben und die Zäsur der Kybernetik“, in: Christoph Zeller (Hrsg.), Literarische Experimente. Medien, Kunst, Texte seit 1950, Heidelberg: Winter, 2012 [= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte; Bd. 296], S. 73–94.

Michael Hagner, Erich Hörl (Hrsg.), Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2008.

Georg Stanitzek, „Komma: ‚die Verbesserung von mitteleuropa, roman‘“, in: Satzzeichen. Szenen der Schrift, hrsg. von Helga Lutz, Nils Plath, Dietmar Schmidt, Berlin: Kadmos, 2017, S. 109–114.

Armin Schäfer, „Figur mit Umgebung“, in: Jessica Güsken et al. (Hrsg.), Konformieren. Festschrift für Michael Niehaus, Heidelberg: Synchron, 2019, S. 299–323.

Philipp Schönthaler, Die Automatsierung des Schreibens & Gegenprogramme der Literatur, Berlin: Matthes & Seitz, 2022, S. 263–270.

Claas Morgenroth, Bleistiftliteratur, Paderborn: Brill | Fink, 2022 [= Zur Genealogie des Schreibens; Bd. 30], S. 473–601.

Abbildung:

Walter Pichler, „Kleiner Raum (Prototyp 4)“ (1967), in: CFA-Gallery, online unter: https://cfa-gallery.com/works/kleiner-raum-prototyp-4/ (letzter Zugriff: 29.08.2024).

Das Virtuelle Objekt des Monats

Seit April 2023 stellen wir jeden Monat ein „Virtuelles Objekt des Monats“ (VOM) auf der Website des Sonderforschungsbereichs 1567 „Virtuelle Lebenswelten“ vor. Die präsentierten Objekte entstammen der Forschung in den Teilprojekten. Im Zusammenspiel von Text und Animation, desktop- oder smartphonebasierter Augmentierung oder anderer grafischer Aufbereitungen eröffnen wir Einblicke in die verschiedenen Forschungsthemen und den Arbeitsalltag des SFB. Das VOM macht unsere Wissensproduktion transparent. Zugleich wollen wir hier mit den Möglichkeiten und Grenzen der Wissensvermittlung in und durch Virtualität und Visualität experimentieren.

Das „Virtuelle Objektdes Monats“ ist mehr als ein populärwissenschaftlicher Text und mehr als ein illustrierendes Bild. Die Autor*innen des jeweiligen VOM präsentieren kurz einen Gegenstand ihrer Forschung um daran ein Argument scharfzustellen. Dabei werden die Objekte auf ihren Mehrwert hin befragt, den sie in dem jeweiligen Forschungssetting preisgeben. Mit dem Text skizzieren unsere Wissenschaftler*innen das Bemerkenswerte, das Eigentümliche oder auch das Einzigartige, welches das jeweilige Objekt zeigt. Sie machen so die Forschung des SFB in einem kurzweiligen Schlaglicht sichtbar. Die zum VOM gehörende Visualisierung ist eine weitere Transformation des Forschungsgegenstands, die das Argument noch einmal auf eine andere Art und Weise zugänglich macht.

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