Virtuelles Objekt des Monats

Das Virtual Fly Brain

Ein Objekt zwischen Verhaltensbeobachtung und Nervensystem

Christoph Engemann

August 2024

Entstehungsgeschichte: Was ist das Virtual Fly Brain?

Das Virtual Fly Brain (VFB) ist eines der bislang ambitioniertesten und größten Projekte ein vollständiges Gehirn eines Lebewesens zu kartieren und öffentlich für die Forschung zugänglich zu machen. Aufbauend auf seit den1990er Jahren veröffentlichten gehirnanatomischen Daten und den Genom-Datenbanken der Drosophila Melanogaster – der gemeinen Fruchtfliege – einem der wichtigsten Organismen für die biologische Forschung, will das Virtual Fly Brain deren neurologischen Begebenheiten kartieren, simulierbar und als webbasiertes Werkzeug verfügbar machen.

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Seit Ende der 1990er Jahre ist mit dem Konnektom ein neues Paradigma in der Beschreibung von Gehirnen und Nervensystemen entstanden. Als Konnektome werden Kartierungen der synaptischen Verbindungen zwischen Nervenzellen bezeichnet. Statt also das Gehirn wie bislang üblich als Ansammlung von spezialisierten Arealen zu beschreiben und abzubilden, kartiert ein Konnketom die Verbindungsstränge und Verzweigungen der neurologischen Funktionseinheiten bis auf das Niveau der einzelnen Nervenzellen hinunter. Das Konnektom der Drosophila umfasst gut 128.000 Neuronen mit 16,5 Millionen synaptischen Verbindungen, die im VFB annotiert vorliegen.

Betrieben und öffentlich zugänglich gemacht wird das Virtual Fly Brain von einem internationalen Konsortium von neurowissenschaftlichen Forschungszentren der Universitäten Cambridge und Edinburgh. Das Konnektom und die Neuroanatomie der Drosophila Melanogaster können online zwei- und dreidimensional erkundet werden. Neben der visuellen Darstellung können im VFB auf Ebene des Nervensystems der Drosophila Verhaltensweisen wie die Navigation im Raum oder Nahrungssuche simuliert werden.

Ausschnitt aus einem Konnektom im VFB. Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=XkbauvReJFA

Die medienhistorischen Grundlagen dieser Kartierungen von Nervensystemen als Konnektome liegen im Aufkommen bildgebender Verfahren wie neuen elektronischen Mikroskopier- und Färbungstechniken, Magnetresonanztomographie und Computertomographie, sowie genetischer Sequenzierungsverfahren in Kombination mit der mathematischen Graphentheorie. Letztere modelliert Netzwerke mathematisch und erlaubt die Beziehungen zwischen Nervenzellen sowohl berechenbar wie visualisierbar zu machen. So können die relativen Abstände zwischen Neuronen, deren Wichtigkeit in einem neuronalen Schaltkreis und andere Eigenschaften errechnet und im Rahmen von entsprechenden Computerprogrammen simuliert werden.

 

Kompetenzen: Was kann das Virtual Fly Brain?

Das virtuelle Fliegenhirn ist ein detaillierter, virtueller Nachbau der neurologischen Schaltkreise der Drosophila. Ein wesentlicher Anspruch des VFB ist es, die existierende neurobiologische Forschung zur Drosophila in einer Art zentralen und öffentlich zugänglichen Atlas zusammenzufassen und explorierbar zu machen.

Startseite des VFB. Quelle: https://www.virtualflybrain.org/ 

Für die neurobiologische Forschung von Wahrnehmungsprozessen, der Informationsverarbeitung und Verhaltenssteuerung der Fruchtfliege bietet das VFB die Möglichkeit nicht nur schnell an einem Ort das bislang publizierte Wissen zusammengefasst zu finden, sondern auch Hypothesen in Form virtueller Experimente am Virtual Fly Brain zu testen.

So haben Forscher*innen beispielsweise die Interaktionen der Augen der Drosophila mit den sensormotorischen Systemen der Flügel und Beine bei der Navigation simulieren können. Die virtuelle Fliege fliegt, orientiert sich im Raum und wählt einen Landeplatz aus. Hunger und dessen Verhaltensfolgen wie Nahrungssuche und Fressen kann durch die Aktivierung bestimmter Verbindungen im virtuellen Fliegenhirn studiert werden (Shiu et al 2022).

Erkenntnisse: Was zeigt das Virtual Fly Brain?

Das Virtuelle Fliegengehirn zeigt zum einen die Komplexität neuronaler Informationsverarbeitung mit ihrer Vielzahl beteiligter und anatomisch unterschiedlicher Zellen, zum anderen belegt das VFB die Wirkmächtigkeit der digitalen Virtualisierungen von Nervensystemen. Das Nachvollziehen und simulative Nutzen virtueller Nervenschaltkreise wie deren gleichzeitige Visualisierungen in verschiedenen Formaten, sollen dabei Forscher*innen neue Einblicke geben. Denn für die Neurowissenschaften und die Psychologie bleiben die Zusammenhänge äußerlich beobachtbaren Verhaltens und innerer Zustände des Nervensystems und Gehirns die zentrale Forschungsfrage. Ein Versprechen des VFB ist es, neue Erkenntnisse über diese Beziehungen an einem vergleichsweise komplexen Organismus gewinnen zu können.

Für die Forschung zu Virtuellen Lebenswelten sind das Virtual Fly Brain und das ähnlich gelagerte Projekt Fly Wire Beispiele der Verschränkung von Lebensbegriffen und Virtualisierung. Hier wird an einem virtuellen Modell Verhalten beforschbar, das lebenden Wesen zugeschrieben wird. Leben selbst steht damit in einem engen Verhältnis zu Problemen und Phänomenen der Virtualität. Zugleich zeigt das VFB mit dem Konnektom die zentrale Rolle mathematischer Graphen in digitalen Virtualisierungsprozessen.

 

Quellen und Copyright

Court, R., Costa, M., Pilgrim, C., Millburn, G., Holmes, A., McLachlan, A., Larkin, A., Matentzoglu, N., Kir, H., Parkinson, H., Brown, N. H., O’Kane, C. J., Armstrong, J. D., Jefferis, G. S. X. E., & Osumi-Sutherland, D. (2023). Virtual Fly Brain—An interactive atlas of the Drosophila nervous system. Frontiers in Physiology, 14. https://doi.org/10.3389/fphys.2023.1076533.

MIT License
Copyright (c) 2023 Virtual Fly Brain
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http://virtualflybrain.org

https://github.com/VirtualFlyBrain

https://flywire.ai

Literatur

Armstrong & van Hemert 2009: Towards a virtual fly brain (doi: 10.1098/rsta.2008.0308).

Shiu et al 2022: Taste quality and hunger interactions in a feeding sensorimotor circuit (doi: 10.7554/eLife.79887).

Schlegel et al 2023: Whole-brain annotation and multi-connectome cell typing quantifies circuit stereotypy in Drosophila (https://www.biorxiv.org/content/10.1101/2023.06.27.546055v2).

Das Virtuelle Objekt des Monats

Seit April 2023 stellen wir jeden Monat ein „Virtuelles Objekt des Monats“ (VOM) auf der Website des Sonderforschungsbereichs 1567 „Virtuelle Lebenswelten“ vor. Die präsentierten Objekte entstammen der Forschung in den Teilprojekten. Im Zusammenspiel von Text und Animation, desktop- oder smartphonebasierter Augmentierung oder anderer grafischer Aufbereitungen eröffnen wir Einblicke in die verschiedenen Forschungsthemen und den Arbeitsalltag des SFB. Das VOM macht unsere Wissensproduktion transparent. Zugleich wollen wir hier mit den Möglichkeiten und Grenzen der Wissensvermittlung in und durch Virtualität und Visualität experimentieren.

Das „Virtuelle Objektdes Monats“ ist mehr als ein populärwissenschaftlicher Text und mehr als ein illustrierendes Bild. Die Autor*innen des jeweiligen VOM präsentieren kurz einen Gegenstand ihrer Forschung um daran ein Argument scharfzustellen. Dabei werden die Objekte auf ihren Mehrwert hin befragt, den sie in dem jeweiligen Forschungssetting preisgeben. Mit dem Text skizzieren unsere Wissenschaftler*innen das Bemerkenswerte, das Eigentümliche oder auch das Einzigartige, welches das jeweilige Objekt zeigt. Sie machen so die Forschung des SFB in einem kurzweiligen Schlaglicht sichtbar. Die zum VOM gehörende Visualisierung ist eine weitere Transformation des Forschungsgegenstands, die das Argument noch einmal auf eine andere Art und Weise zugänglich macht.